ADB:Humboldt, Wilhelm von

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Artikel „Humboldt, Wilhelm von“ von Alfred Dove in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 13 (1881), S. 338–358, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Humboldt,_Wilhelm_von&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 07:06 Uhr UTC)
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Humboldt: Friedrich Wilhelm Christian Karl Ferdinand v. H., der ältere der berühmten Brüder; Denker und Forscher von tiefem und klarem Geiste, bedeutend für Theorie im allgemeinen, epochemachend für die der Sprache; überdies hochsinniger Staatsmann, unvergeßlich als Unterrichtsminister; nicht am wenigsten merkwürdig durch das menschliche Ganze seiner Persönlichkeit; geboren am 22. Juni 1767 in Potsdam, † im Schlößchen Tegel am 8. April 1835.

Die Familie H. erscheint vom Ende des 16. Jahrhunderts an in der Neumark, noch bürgerlich, in Aemtern städtischer und ländlicher Verwaltung. Konrad H., der studirt hatte, als Begleiter kurfürstlicher Gesandtschaften zum Legationsrath aufstieg und ein Fräulein v. Borcke heirathete, ward 1685 als brandenburgischer Amtmann über die Starostei Draheim gesetzt, wo er 1723 starb. Sein einziger Sohn Hans Paul H. trat ins Heer und lebte, nachdem ihm 1706 als Kapitän bei Turin ein Fuß zerschossen worden, pensionirt in Hinterpommern bis 1740, vermählt mit einer v. Schweder; 1738 erbat und erhielt er vom Könige die Bestätigung des Adels, welcher vermuthlich conventionell schon dem Vater Konrad beigelegt worden war. Von den vier Söhnen, die ihn überlebt und sämmtlich als Offiziere die schlesischen Kriege mitgemacht haben, stand Alexander Georg v. H. (1720–79) im siebenjährigen Krieg als Adjutant bei Herzog Ferdinand, nahm jedoch schon 1762 als Major den Abschied. Zwei Jahre darauf von Friedrich d. Gr. zum Kammerherrn bei der Gemahlin des Thronfolgers ernannt, verließ er 1769 nach deren Scheidung den Potsdamer Hof, blieb indeß beim Prinzen von Preußen selbst so entschieden in Gunst, daß man sogar den künftigen Minister in ihm erblickte; doch hat er den Thronwechsel nicht erlebt. Cavalier von gewandtem und munterem Wesen, galt er übrigens für verständig und geschmackvoll, menschenfreundlich und patriotisch. Er verband sich 1766 mit der verwittweten Freifrau v. Holwede, Maria Elisabeth [339] v. Colomb (1741–96), Cousine der späteren Fürstin Blücher, aus alter Hugenottenfamilie, einer Dame von ernster, vornehm gemessener Haltung, die ihm ansehnlichen Grundbesitz zubrachte, ein Haus in Berlin und Landgüter, zum Theil von ihrem ersten Gatten überkommen, welcher auch das Schlößchen Tegel, einst Jagdhaus des großen Kurfürsten, nördlich von der Hauptstadt an einem Havelsee anmuthig gelegen, in Erbpacht besessen hatte.

Dieser Ehe entsprangen zwei Söhne, unser Wilhelm und der zwei Jahr jüngere Alexander; sie verlebten Kindheit und erste Jugend gemeinsam und genossen wesentlich die gleiche ausgezeichnete Erziehung und Vorbildung, deren Einleitung noch das Verdienst des Vaters, deren Durchführung das der Mutter ist. Die Absicht war, da die militärische Laufbahn die Familie bisher nicht eben weit geführt, die jungen Edelleute für hohe Civilämter tüchtig zu machen; an einen vom Staatsdienst abgekehrten, rein wissenschaftlichen Beruf dachte man von Haus aus keineswegs. Allein Zeit und Ort brachten es mit sich, daß die Vorbereitung auf jenen immerhin auch für diesen den Grund legen konnte; denn in dem nämlichen Ideal der Aufklärung kamen in Berlin während der letzten Jahre Friedrichs d. Gr. Staat und Gesellschaft, Litteratur und Schule überein. Und so ward gleich zum ersten Hofmeister der Gebrüder H. einer der eifrigsten Verehrer dieses Ideals erlesen: der junge Campe begann dort (1769 bis 73 und abermals 1775–76) seine pädagogische Thätigkeit. Vornehmlich Wilhelm empfing von ihm anregenden Elementarunterricht; Campe’s Theilnahme und vor allem seine Kinderschriften haben jedoch auch nach seinem Weggang noch die Fortschritte beider Knaben begleitet. Ungleich wichtiger ward für deren individuelle Ausbildung freilich der 1777 als Erzieher in Tegel eintretende G. J. Christian Kunth, der sich später als Beamter, durch Stein’s Freundschaft geehrt, um die moderne Entwickelung des Gewerbewesens in Preußen wohlverdient gemacht. Ebenso gewissenhaft wie freisinnig schon als junger Mann, hat er die beiden H. nicht blos über ein Jahrzehnt hindurch bis in die Universitätsstudien hinein sicher geleitet; er gewährte vielmehr nach dem frühen Tode des Vaters an der Seite der durch ein schweres chronisches Leiden heimgesuchten Mutter dem ganzen Hausstand eine praktische Stütze. Kunth unterwies seine Zöglinge anfangs selber; für die höheren Curse jedoch, insbesondere für Mathematik, Griechisch und die modische Philosophie wurden allmählich die besten Lehrkräfte der Residenz zu Privatstunden angeworben, weshalb die heranwachsenden Brüder seit 1783 auch den Sommer in Berlin zuzubringen pflegten. Daran schlossen sich sodann noch andere Vorträge, bereits von akademischem Zuschnitt: statistisch-politische von Dohm, naturrechtliche von Klein, der an der Abfassung des Landrechts mitarbeitete. Den größten Theil seiner Bildung aber glaubte Wilhelm zunächst unter allen Lehrern dem philosophischen, Engel, schuldig zu sein; in die Popularphilosophie, dies Centrum der Aufklärung, schlägt denn auch der erste litterarische Versuch des Neunzehnjährigen, ein 1787 in Zöllner’s Lesebuch für alle Stände gedruckter Aufsatz, worin Sokrates und Plato als Zeugen für die Wahrheiten der natürlichen Religion vorgeführt werden. Die Früchte des Unterrichts zeitigte der Umgang, indem die jungen Herren v. H. alsbald auch mit den übrigen Häuptern der Berliner Weisheit, in deren Mitte noch der Schatten Lessing’s wandelte, den Biester, Teller, Mendelssohn, Friedlaender und Genossen in freundliche Beziehung traten. Da übte man täglich jene beflissen logische Denkweise, die mit Vorliebe dazu benutzt ward, das eigene Dasein unter steter rationalistischer Controle zu halten. Wilhelm v. H. gewann dabei materiell ein theoretisches Interesse am Menschen als solchem, während er formell sein Talent zur Untersuchung, Kritik und Erörterung methodisch zu entwickeln vermochte. Dennoch ging er als ein Glied der jüngeren Generation von vornherein [340] nicht auf in der ortsüblichen Verstandeskrämerei der vorwaltenden Männer; hinter allem Witz seines Kopfes kam schon damals auch sinnliche Natur und echte Herzensempfindung zum Vorschein, die er in den wärmeren Regionen der Frauenwelt, zumal einer Henriette Herz gegenüber, getrost in schwärmerischen Anwandlungen kundgab. Ein Geheimbund, den er dieser Freundin stiften half, zum Zwecke der Beglückung durch Liebe auf Grund moralischer Veredlung, erfüllte die Correspondenz seiner Studienzeit mit redseliger Gefühlsdialektik.

Zwanzig Jahr alt, bezog er mit Bruder und Hofmeister die märkische Hochschule, um Jura zu studiren, während für Alexander Cameralia bestimmt wurden. Auch dort hörten die Brüder fast nur Privatissima; da jedoch auf der Viadrina im ganzen wenig zu holen war, so verließen sie Frankfurt schon nach einem halben Jahre, Ostern 1788, und Wilhelm allein ward von Kunth nach Göttingen übergeleitet, um fortan auf eigenen Füßen zu stehen. Kaum drei Semester hat er der Georgia Augusta angehört, aber vortrefflich vorbereitet, gescheut und fleißig, wie er war, reichten sie hin, um seine Berufsstudien zu vollenden. Was immer an juristischer, politischer und historischer Disciplin auf dieser Universität ihrem vornehmsten Zweck gemäß zu erwerben war, eignete sich H. an, und doch nahm er zugleich mit noch lebhafterer Neigung die Alterthumswissenschaft auf, wie sie in Heyne’s Colleg und Seminar dargeboten ward, so daß ihn dieser zu den besten Philologen seiner Schule rechnete. In den willkommenen Stunden der Einsamkeit aber versenkte sich der musterhafte Student in Kant und erweckte bald Staunen über den Grad seiner Einsicht in das schwierige System, welches den bisherigen Jünger des „Philosophen für die Welt“ mit Macht in eine unendlich tiefere Schicht der Selbstbetrachtung hinabzog. Sogar der spottlustige Alexander, der ihm nach einjähriger Trennung nach Göttingen folgte, fing an, die jetzige Bildung des Bruders, seine ausgebreitete Gelehrsamkeit zu bewundern. Ueber Hörsaal und Büchern wurden indeß Leben und Welt nicht versäumt. In Heyne’s Hause lernte H. Forster und Therese kennen, die gerade 1788 zwischen Wilna und Mainz in Göttingen rasteten und durch ihr geist- und gefühlvolles Wesen den stärksten Eindruck auf seine empfängliche Seele machten. Die erste Ferienreise führte ihn deshalb im Herbst 1788 zu Forster nach Mainz und von da stromab nach Pempelfort zu Jacobi, ins Hauptquartier der genialen und sentimentalen Partei, in welchem H., dem feindlichen Lager der einseitigen Verständigkeit schon entschieden entfremdet, sich leicht zurecht fand, ohne doch etwa selbst zur phantastischen Fahne zu schwören. Unvergleichlich größere Scenen that sodann das J. 1789 vor ihm auf. Bereitwillig schloß er sich im Sommer dem begeisterten Ausfluge Campe’s ins revolutionäre Frankreich an und ließ im August ein paar Wochen lang die buntesten Bilder des neu erregten Pariser Volkslebens an sich vorüberziehen. Auf der Heimfahrt sprach er wieder in Mainz vor und nahm im innigsten Verkehr mit Forster an der Schrift über Proselytenmacherei, welche dieser gegen die Unduldsamkeit der Berliner Aufklärer richtete, beirathenden Antheil. Von da durchzog er den Herbst über Südwestdeutschland und die Schweiz, nach Tagessitte mit gleich lebendigem Trieb um Naturgenuß und Kenntniß merkwürdiger Menschen bemüht. Wie sehr er jedoch dem gewöhnlichen Schlage der in Bildungsgeschäften Reisenden jener Zeit überlegen war, beweist der sichere Scharfblick, mit dem er sofort das hohle Treiben Lavater’s durchschaute. Immer fester stellten sich ihm selber, den Extremen der Schwärmerei wie der Nüchternheit gegenüber, Kopf und Herz ins Gleichgewicht. Frei und besonnen, frisch und reif, in heiterer Gelassenheit, eine früh abgerundete Persönlichkeit, die deshalb nur ganz oder gar nicht zu ergreifen und zu halten ist, so geht er nun der Heimath und dem Beruf entgegen; noch unterwegs aber erwartet ihn ein verhängnißvoll ablenkendes Glück.

[341] Im December 1789 lernte H. zu Erfurt im Kreise Dalberg’s die Tochter des gewesenen Kammerpräsidenten v. Dacheröden, Karoline, genauer kennen, mit der ihn schon vor Jahr und Tag jene empfindsame „Loge“ der Berliner Freundinnen in sympathische Beziehung gebracht. Die strahlende Anmuth und sinnige Liebenswürdigkeit, wodurch sie selbst in Schiller’s Augen ungewöhnlich und idealisch erschien, fesselte H. dergestalt, daß er sich auf einem Weihnachtbesuch, den man in Gesellschaft der nahbefreundeten Schwestern v. Lengefeld in Weimar abstattete, mit ihr versprach. Noch bis ins Frühjahr 1790 verweilte er dann in Erfurt und bildete dort in der glücklichen Epoche eines natürlich erhöhten Eigengefühls die schon ursprünglich individualistische Anlage seines Wesens grundsätzlich zur Gesinnung aus. Er entwirft das Programm seines Lebens, indem er am 8. Febr. 1790 an Forster schreibt: „mir heißt ins Große und Ganze wirken auf den Charakter der Menschheit wirken, und darauf wirkt jeder, sobald er auf sich und blos auf sich wirkt; man sei nur groß und viel, so werden die Menschen es sehen und nutzen; der wahrhaft große, d. i. wahrhaft intellectuell und moralisch ausgebildete Mann wirkt schon dadurch allein mehr als alle andere, daß ein solcher Mann einmal unter den Menschen ist oder gewesen ist“. Eine hocharistokratische Ansicht, die, rein ethisch genommen, sich noch gar wohl als ideeller Hintergrund mit direct gemeinnützigem Handeln vertrüge; und in der That entzog sich H. einem solchen nicht sogleich. Im Sommer 1790 trat er in Berlin seinen Probecursus im Staatsdienst als Referendar am Kammergericht an. Es waren die Zeiten des Wöllner’schen Regiments, das in seinem Kampf gegen alle geistige Unabhängigkeit einem Jüngling von solcher Erziehung und Richtung aufs tiefste verhaßt sein mußte. Desto mehr hätte er sich verpflichtet fühlen sollen, in der festen Stellung des Richters ausharrend, bessere Tage anbahnen zu helfen. Er freute sich seiner Mitwirkung im Unger’schen Proceß, wo er (Anfang 1791) neben seinem Lehrer Klein, dem das Urtheil oblag, das Protokoll zu führen hatte; er sah ein, daß er Nutzen stifte und künftig unendlich mehr werde stiften können. Trotzdem zog er sich nach Ablauf des Jahres im Sommer 1791 kaum 24jährig mit dem Titel eines Legationsrathes aus der Praxis völlig zurück; aus keinem anderen Grunde, als weil er darin ein Hinderniß für jenen Drang nach höchster Selbstbildung erblickte. Egoist, wiewol in edelster Gestalt, Epikureer, wenn auch vom feinsten Korn, nahm er dem Schicksal, das ihn bisher verwöhnt, gewissermaßen die Arbeit seiner ferneren Verwöhnung ab. Seit Juli 1791 vermählt, widmet er sich einem idealistischen Stillleben, zunächst auf einem Gute des Schwiegervaters, Burg-Oerner bei Hettstedt in der Mansfelder Grafschaft. Für eine Natur, wie die seine, mußte eine geistig ebenbürtige Ehe der unerschöpfliche Quell des reinsten Glückes werden, und so hat er daraus mit vollen Zügen fast 38 Jahre bis an den Tod der Gattin, ja auch hernach noch bis an den eigenen im geweihten Gefäße sehnsüchtigen Andenkens, genossen. Was er aber am meisten an der Lebensgefährtin rühmte, war wiederum, daß ihr Umgang durch sich selbst unmittelbar und unaufhörlich bilde, und zwar einen jeden in seiner eigenen Natur, da Ehrfurcht vor jeder inneren Freiheit einer ihrer Hauptzüge sei. So sah er sich denn an ihrer Seite von Anfang an in seinem wichtigsten Vorhaben kräftig gefördert und hoffte dabei, in glücklichen Stunden auch für andere zur Bereicherung oder Berichtigung der Ideen beitragen zu können, wozu ja alles Thun und Treiben in der Welt nur Mittel sei.

In diesen Burgfrieden beschaulichen Ideenlebens aber drang nun doch als Object zunächst gerade die Politik ein; der gewaltige Fortgang der Revolution, die sich eben anschickte, das Problem der besten Staatsordnung gemeingültig für die Menschheit zu lösen, gewann auch dem Einsiedler der Humanität eine kritische [342] Betrachtung ab. Im August 1791 richtete H. an einen Berliner Freund einen Brief, den er dann in Biester’s berlinischer Monatsschrift (Januar 1792) als „Ideen über Staatsverfassung durch die neue französische Constitution veranlaßt“ ohne sein Zuthun gedruckt sah. Mit merkwürdigem realistischen Takt erklärt er darin jeden Versuch, einer Nation eine nach bloßen Grundsätzen der Vernunft systematisch entworfene Staatsverfassung aufzuerlegen, für praktisch eitel; denn da die Vernunft überhaupt menschliche Kraft nur zu reizen und zu lenken, nicht aber zu erzeugen vermöge, so bedürfe es statt des abstracten Verfahrens vielmehr steter Rücksicht auf die concrete Gegenwart in ihrer ganzen individuellen Beschaffenheit; wodurch also im Gegensatz zur Revolution, deren anregende und erweckende Bedeutung selbst über die Grenzen Frankreichs hinaus H. gern anerkennt, eine dauerhafte Wirkung doch allein der Reform zugesprochen wird. Ganz richtig witterte Dalberg, den H., als er Anfang 1792 auf einige Zeit nach Erfurt übersiedelte, in näherem Verkehr seines sittlichen Strebens halber schätzen lernte, in solchen Sätzen zugleich eine Verurtheilung des josephinischen Staatsideals, dem er selber huldigte, und stellte deshalb dem Freunde die principielle Frage nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Hieraus erwuchs das im Mai 1792 vollendete Werkchen: „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, die erste größere Schrift Humboldt’s, die übrigens an Geschlossenheit und Durchführung von keiner späteren erreicht wird. Die Berliner Censoren standen an, ihren Druck zu gestatten, und ehe dann Schiller anderwärts einen Verleger ausfand, stiegen H. selbst Zweifel an ihrer Vollkommenheit auf, sodaß 1792 nur drei Bruchstücke davon in der berlinischen Monatsschrift, ein viertes in der Thalia veröffentlicht ward, während der noch vorhandene Rest der Handschrift erst 1851 posthum ans Licht trat. So ist der höchst originellen Arbeit ein Einfluß auf die folgende Entwickelung der politischen Theorie entgangen, den sie bei ihrer einseitigen Energie sonst, theils anziehend, theils abstoßend sicherlich geübt haben würde. Sie bezeichnet nämlich, nur etwa von Fichte abgesehen, den Gipfel der naturrechtlichen Staatslehre nach der individualistischen Seite. Dem Endzweck der Freiheit und mannichfaltigsten Kraftentwickelung des Einzelnen gegenüber wird der Staat zur bloßen Nothanstalt für das einzige nicht anders zu befriedigende Bedürfniß der Sicherheit herabgedrückt, die er nach außen und innen durch Machtbereitschaft und Rechtspflege gewähren soll. Auf allen übrigen Gebieten wird die unselige Regiersucht, das anmaßende Bemühen, das physische oder gar das moralische Wohl der Individuen durch staatliche Fürsorge zu fördern, von H. aufs lebhafteste bekämpft. Was so dem Staat entzogen wird, theilt er der Gesellschaft zu, der freien Vereinigung der Individuen zu bestimmten Zwecken in selbstgewählten Formen; diesen Associationen aber spricht er doch wieder jede Spur von corporativer Festigkeit ab und damit jede Dauer über das momentane Belieben des Einzelnen hinaus, sodaß der Gefahr einer atomistischen Zersplitterung solches individuellen Gemeinlebens nirgend ernstlich vorgebaut wird. Man sieht, es ist lediglich die theoretische Negation der allgewaltigen Staatspraxis, wie sie etwa Friedrich d. Gr. im materiellen Bereich ausgeübt, sein Nachfolger auch auf das geistige Dasein auszudehnen trachtete; von positivem Ersatz ist kaum die Rede, denn auch die nationale Idee, welche das damalige Frankreich in all seinem Umsturz zusammenhielt, berührt das politische Denken Humboldt’s so wenig, wie das seiner deutschen Zeitgenossen. Erscheint so seine Schrift hauptsächlich als eine Anklage wider das Wesen des Staatsverbandes, von dem er seine Thätigkeit soeben losgerissen, so dient sie damit natürlich andererseits zur Rechtfertigung dieser seiner subjectiven Handlungsweise. Bedauern und Mißbilligung der Freunde wusch er gleichsam ab im kühlen Element der reinen [343] Theorie. Denn nur als solche stellt sich ihm selber seine Untersuchung dar, wiewol er immerhin hoffte, von deren Wahrheit auch den künftigen Regenten in Dalberg zu überzeugen. Allein dieser, der die Abhandlung mit dem Verfasser sorgfältig durchging, beharrte nichtsdestoweniger bei seiner nahezu entgegengesetzten Ansicht, der er in einer 1793 anonym herausgegebenen Gegenschrift überschwänglich wie immer phrasenhafte Worte lieh.

Nachdem sich H. so auch in Gedanken wie vordem in Wirklichkeit vom öffentlichen Leben losgesagt, blieb ihm volle Muße für jenes rein humane Geschäft individueller Selbstentwicklung, dessen natürliche Reize er für sich und die Welt in das ernste Gewand der Pflicht gehüllt hatte. Es ist gewissermaßen eine zweite Studienzeit, die er nun in unvergleichlich erweitertem und zugleich erhöhtem Kreise durchläuft bis zu dem Augenblick, wo das ungeheure Schicksal des Vaterlandes auch an ihm die Bekehrung des genießenden Menschen zum entsagenden Bürger vollbringt. In dieser zweiten Studienzeit führt ihn ein günstiges Geschick von den Talenten zu den Genien: an Stelle der Heyne, Forster und Jacobi treten ihm die Wolf, Schiller und Goethe; statt der früheren flüchtigen Reisen an den Rhein, nach Paris, Süddeutschland und der Schweiz wird ihm sodann ein ausgiebiges Wandern und Weilen in der schönsten und denkwürdigsten Fremde, in Frankreich, Spanien und Italien gewährt. Das alles aber, soviel sich ihm darbietet an Geist und Natur, nimmt er frei und groß in sich auf mit dem ästhetischen Sinn, in welchem Genuß und Thätigkeit sich ununterscheidbar durchdringen; er lebt und webt darin mit ungetheilter Hingabe ohne jeden Ehrgeiz, zufrieden mit der bloßen Geltung seiner inneren Existenz, und wird durch solche Bescheidenheit des Vertrauens der schöpferischen Freunde desto würdiger. Unter den stillen Gesellschaftern sozusagen jener klassischen Periode unserer Litteratur fiel ihm daher mit Recht die oberste Stelle zu.

Vornan steht unter Humboldt’s neuen geistigen Verhältnissen das zu Friedrich August Wolf und seiner großartigen Philologie. Schon früher war es zu flüchtiger Berührung beider Männer in Erfurt gekommen, schon durch seinen Jugendunterricht und zumal durch seine Göttinger Studien waren H. Liebe und Verehrung für das Alterthum eingeflößt worden, unmittelbar nach dem Abschluß seiner politischen Schrift hat er sich an die Uebersetzung einer pindarischen Ode gewagt, die er 1792 in Berlin erscheinen ließ; allein erst ein Besuch, den er im Sommer dieses Jahres in Halle machte, begründete persönlich und sachlich eine tiefe und unzerstörbare Verbindung. Besonders die nächsten anderthalb Jahre bis zu seiner Uebersiedlung nach Jena ergab er sich nun im regelmäßigen, zugleich freundschaftlichen und wissenschaftlichen Briefwechsel mit Wolf, welcher bisweilen durch gastliche Einkehr hüben und drüben lebendig angefrischt ward, dem emsig eindringenden Studium der Alten, vorzüglich der Griechen. In der winterlichen Einsamkeit zu Auleben, einem anderen, in der güldenen Aue belegenen Erbgut der Frau v. H., oder wieder auf Burg-Oerner, selbst durch die Gattin, die hier Griechisch von ihm lernte und mit ihm las, nicht unterbrochen, vergrub er sich so völlig und so befriedigt in dies Studium, daß, wie er versichert, auch der letzte Schatten von Lust, ein thätiges Leben in Geschäften zu führen, in ihm erstarb. Auch geräuschvollere Aufenthalte in Erfurt, Tegel, Dresden, Jena konnten deshalb nur äußerlich störend dazwischentreten. Der Grund nun, warum H. damals mit so einziger, jeden fremden Gedanken abweisender Begeisterung das griechische Alterthum ergriff, war der Glaube, auf keinem anderen Wege so unmittelbar sein inneres Ziel vollendeter menschlicher Bildung erreichen zu können; denn in den Griechen erkennt er das Muster vielseitiger und harmonischer Humanität und somit den größten Gegenstand geistig aneignender Betrachtung. Diese ursprünglich private Auffassung aber erhielt eine [344] ins allgemeine wirkende Bedeutung, indem H. sie Anfang 1793 auf Wolf’s Anmahnung für diesen schriftlich entwickelte. Der geniale Reformator der Alterthumswissenschaft empfing in dieser „Skizze über die Griechen“ aus der Feder seines philologischen Genossen erst die wahrhaft ideale Verklärung der Summe seiner eigenen gelehrten Bestrebungen; Grundgedanken und Hauptsätze der Arbeit Humboldt’s hat er noch 1807 in seiner „Darstellung der Alterthumswissenschaft“ verwerthet und verbreitet, und so ist der naive Hellenismus der ersten Humanisten, wie er in Humboldt’s Weltansicht wieder aufgelebt und von ihm zum philosophischen Bewußtsein gesteigert war, in die neue kritische Aera der klassischen Studien übergegangen. H. selber ist nicht dazu gediehen, aus jener Skizze etwas ausgeführtes hervorzugestalten, wie es ihm noch in den folgenden Jahren als Schilderung der griechischen Individualität, als Bild des griechischen Dichtergeistes oder endlich – in immer engeren Umrissen – als Charakteristik der hellenischen Lyrik, ja Pindar’s allein, vorschwebte. Für die Hauptsache galt ihm stets, daß eine solche Idee das Leben beständig begleite; es schade nichts, wenn sie auch nie zustande käme; noch unsäglich weniger aber war ihm natürlich an Publication des etwa zustande gekommenen gelegen. So erschienen denn bei seinen Lebzeiten von einschlagenden Stücken in verschiedenen Zeitschriften nur noch die Uebersetzung eines Chores aus Aeschylus’ Eumeniden (1793), die zweier weiterer Pindaroden (1795–97), während ungefähr ein Dutzend anderer erst aus seinem Nachlaß herausgegeben wurden, ferner die bewundernde Anzeige von Wolf’s Edition der Odyssee (1795) und endlich 1816 als Buch die der Gemahlin gewidmete Uebersetzung des aeschyleischen Agamemnon, ein Produkt zwanzig Jahre lang wieder und wieder aufgenommener, zuletzt bis zur peinlichsten Ueberfeinerung angestrengter Arbeit. Wie ihn nämlich die beiden schwungvollsten hellenischen Dichter am meisten anzogen, so hielt er andererseits eine metrisch und grammatisch charaktertreue Uebersetzung überhaupt für das zweckmäßigste Mittel zum activen Verständniß antiker Poesie. Glücklicherweise jedoch ist der Welt von Humboldt’s lebenslänglicher klassischer Privatlectüre, die er selbst im Staatsamt als Gegengift gegen die menschenverderbenden Akten gebraucht hat, wenigstens indirect unendlich viel mehr zugute gekommen. Denn nicht allein lieferte ihm das griechische Alterthum werthvolles Material für die ästhetische Theorie, mit der er Schiller und Goethe beifällig an die Hand ging; vor allen Dingen sog er aus jener stillvergnügten Philologie den grenzenlosen Enthusiasmus für die Sprache als solche, der ihn später auf dem Felde der allgemeinen Linguistik zu wahrhaft bedeutender eigener Produktion anfeuerte. Man muß in seinen Briefen an Welcker lesen, wie er (am 18. März 1823) einige Verse des Homer, und wenn sie aus dem Schiffskatalog wären, für den höchsten denkbaren Trost im Momente des Todes erklärt, oder ein andermal (im Februar 1826) die Idee, daß alle wahrhafte Geistesbildung aus den Eigenthümlichkeiten des attischen Dialekts hervorgehe, als sein unverändertes Glaubensbekenntniß ausspricht, um zu ermessen, wie viel Nahrung sein sprachwissenschaftlicher Trieb aus dem Boden seiner Alterthumskunde gezogen hat. Daß dies aber von vornherein geschehen konnte, wofür man frühes Zeugniß in seinem Briefwechsel mit Schiller findet, verdankt er doch wol vornehmlich dem methodischen Muster des großen Philologen von Halle. Gleich den Helden bei ihrem Homer tauschten die Gastfreunde Wolf und H. ihre Rüstung aus: wenn der eine seiner geübten Alterthumswissenschaft die Weihe der reinsten humanistischen Idee heimbrachte, trug der andere die Technik der grammatischen Einsicht für die künftigen Aufgaben seiner vergleichenden Sprachforschung davon.

Ende Februar 1794 siedelte H. nach Jena über, wo er bis zur Mitte des folgenden Jahres 16 Monate lang verweilte. Durch die zunehmende Krankheit [345] der Mutter in Berlin festgehalten, fand er dann erst im Spätherbst 1796 Gelegenheit zu einem zweiten, leider nur halbjährigen Jenenser Aufenthalt. Es war die glücklichste Constellation in seiner Lebensbahn, als ihm so, wie er noch spät in poetischer Erinnerung rühmt, das Schicksal die beiden strahlverwandten Zwillingssterne, Schiller und Goethe, in Freundesnähe rückte. Eben eigentlich um Schiller’s willen, den er bei früheren Begegnungen stets höher hatte schätzen lernen, zog er nach Jena; und von nun an verband beide feste Männerfreundschaft, die, auf intellectuelle und moralische Harmonie gegründet, auch hernach in der Trennung unversehrt blieb. Was H. diese ideenreichsten Tage seines Lebens, wie er sie nach Schiller’s Tode genannt hat, geistig bedeuteten, darüber bedarf es keines Wortes. Daß auch Schiller dabei nicht leer ausging, beweist für das verklungene Gespräch, worin beide Meister waren, der erhaltene Briefwechsel, wie er zumal in jener Pause des persönlichen Umgangs 1795–96 eifrig gepflogen ward. Für die ästhetische Speculation, mittels deren sich der Dichter damals von der Wissenschaft zur Poesie zurück die Brücke schlug, ließ sich kein besserer Gehülfe denken als H., der bei gleicher dialektischer Gabe mindestens ebenso gründlich im Kant Bescheid wußte, vor allem jedoch aus eigener Bewunderung die unendlich feinere und richtigere Kenntniß der Griechen besaß. Die wieder anhebende poetische Praxis des Freundes aber begrüßt, begleitet und bestärkt er dann mit dem lebendigsten Antheil unbegrenzter Empfänglichkeit. Neben dem auffordernden Schöpferbeispiel Goethe’s und dem orientirenden Kennerurtheil Körner’s bot H. durch auslegende Doctrin ermuthigende Bestätigung dar. Unmittelbare Dienste leistete freilich nur seine sprachliche Detailkritik; sichtlich angeregt hat er unter den Produkten der didaktischen Lyrik Schiller’s, die er so innig verehrte, höchstens die Würde der Frauen, die Geschlechter und einige nächstverwandte Epigramme. Den irreführenden Rath, den Wallenstein in Prosa zu schreiben, wird man gering anschlagen gegen die überzeugende Gewißheit, mit der er dem zweifelnden Dichter als die ihm eigentlich bestimmte Gattung das heroische Drama anwies. Die Hauptsache bleibt, daß die ganze merkwürdige Individualität Schiller’s von niemand anders mit so anschmiegendem Nachfühlen und -denken begriffen ward, als von H. Ist er so schon damals, wo es etwa nöthig war, wie 1795 in Berlin Gentz oder Rahel gegenüber, zum beredten Apostel des Dichters geworden, so ward viel wichtiger noch sein Entschluß, das treubewahrte Charakterbild des Verewigten einer hochmüthig vergessenden jüngeren Generation in reinen Zügen wieder vor Augen zu stellen. Angetrieben durch das Erscheinen des Goethe-Schiller’schen Briefwechsels, gab H. 1830 auch seine eigene Correspondenz mit dem Freunde in sorglicher Auswahl des wirklich Bedeutenden heraus und leitete das Buch ein durch eine „Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistesentwickelung“, welche, wie sie beiläufig auch Kant durch das schönste und gerechteste Lob ehrt, das ihm jemals gespendet worden, so über Schiller’s Denk- und Dichtart im allgemeinen und die Natur seines Idealismus insbesondere den triftigsten Inhalt in bündigster Form ausspricht; eine seitdem oft umschriebene, jedoch nie übertroffene Darstellung. Derselbe Mann aber, der so zwischen Schiller und der Nachwelt vermittelte, vermochte zugleich den theoretischen Unterhändler zwischen Goethe und der Mitwelt abzugeben. Aeußerlich knüpfte das neue Verhältniß ungezwungen an die epochemachende Verbindung an, welche gerade im Sommer 1794 die Dichterfürsten selber eingingen; man glaubt es gern, wenn H. dann im März 1797 von einer unendlich interessanten Existenz an Körner berichtet, die er in Jena zwischen beiden führe, mitten im Feuer der Composition von Hermann und Dorothea und Wallenstein. Innerlich verstand sich für den Jünger der Hellenen, in dessen eigener Seele neben dem Gedanken auch die Anschauung kräftig lebte, begeisterte Freude am Wesen Goethe’s [346] von selbst. Auch dieser aber fühlte sich durch die klare Einsicht in sein Wollen und Vollbringen, die ihm H. entgegenbrachte, schon beim Wilhelm Meister wahrhaft gefördert; dankbar gehorcht er so manchem prosodischen Winke des philologischen Freundes, der in Berlin den Druck des Musenalmanachs überwacht, bei der Vollendung seines epischen Gedichts; ebenso überraschend wie tröstlich kam ihm endlich 1798 aus dessen Händen von Paris der zu einem Buch angeschwollene, 1799 als solches veröffentlichte „ästhetische Versuch über Hermann und Dorothea“, der seinen doppelten Zweck, an diesem einen Gedichte die Gesetze der epischen, ja aller Poesie zu entwickeln und zugleich Goethe’s individuellen Dichtercharakter zu schildern, in einer für den letzteren äußerst schmeichelhaften Weise verfolgt und erreicht. Ein Werk unstreitig von höchster kunstwissenschaftlicher Gediegenheit, das jedoch eben deshalb, schwerfällig wie es überdies einhertritt, auf die Studien der Späteren größeren Einfluß geübt hat als auf den Genuß des zeitgenössischen Publikums. Sein Lebelang erblickte darauf Goethe mit Recht in H. den geistig Vertrauten, einen der echten alten Freunde aus der Schiller’schen Zeit, wie er sich 1823 ausdrückt; durch jeden seiner Besuche fühlt er sich belebt und angeregt; es war kein Zufall, wenn die letzten Sätze, die er dictirt hat, mit die tiefsinnigsten, die ihm je entströmten, gerade an diesen Freund gerichtet wurden. Denn mittlerweile war er ihm abermals Dank für die öffentliche Interpretation, diesmal seiner gesammten geistigen Eigenart, schuldig geworden durch den herrlichen Aufsatz „Ueber Goethe’s zweiten römischen Aufenthalt“, den H. 1830, unmittelbar nach jener Erinnerung an Schiller, auf Varnhagen’s Bitte für die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik verfaßte und der wiederum zugleich episodisch neben dem Genius Goethe’s den Genius Roms in unnachahmlicher Charakteristik feiert. Man gewahrt, wie das energische Licht jener kurzen Jenenser Tage das geistige Dasein Humboldt’s für alle Folgezeit verklärt hat; kaum kommt dagegen in Betracht, wie viel oder wenig litterarische Frucht es momentan unter seiner Hand reifen ließ. Wirklich gelang es selbst dem feurigen Schiller nicht, den Freund im Interesse der eben gegründeten Horen zum emsigen Schriftsteller zu erziehen; für diese brachte H., nachdem er 1794 die Jenaer Litteraturzeitung mit einer unverzeihlich günstigen Recension von Jacobi’s Woldemar bedacht, 1795 nur die Aufsätze „Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur“ und „Ueber die männliche und weibliche Form“ zustande. Sie erregen unsere Aufmerksamkeit vornehmlich durch den Grundgedanken, dem sie entstammen. Immer deutlicher nämlich offenbarte zu jener Zeit H. sich und den Freunden als die Summe seiner Bestrebungen eine Charakteristik des Menschen überhaupt, welche sowol die ideale Fähigkeit als die reale Leistung desselben philosophisch zu bestimmen und empirisch zu ermitteln habe, um zuletzt in die praktische Spitze einer Theorie der Menschenbildung auszulaufen. Als solide Vorstufe zu solcher Wissenschaft erschien ihm die kritische Philosophie Kant’s, als beste Schule dazu das Studium der griechischen Antike. Dem nämlichen Ziele strebten seine ästhetischen Bemühungen zu, weshalb ihm die Betrachtung einer einzelnen Epopöe zur Theorie der künstlerischen Einbildungskraft emporwuchs; von demselben Gesichtspunkt aus entwarf er allerhand geschichtsphilosophische Pläne, unter ihn hatte er schon ehedem Staat und Gesellschaft gerückt, von ihm aus beobachtete er die geniale Persönlichkeit der Freunde und vor allem wieder und wieder den stillen Gang seines eigenen Lebens. Die erwähnten Horenaufsätze aber suchen nun, gestützt auf einen anatomischen Curs, den er im ersten Jenenser Winter gemeinsam mit Goethe bei Loder durchgemacht, ein Hauptproblem der gewöhnlichen Anthropologie, mit der man Humboldt’s höhere Menschenkunde sonst nicht schlechthin verwechseln darf, im Sinne der letzteren zu lösen. So bildete, merkwürdig genug, in derselben Epoche, in der vor dem Geiste seines Bruders [347] Alexander zuerst die Conception einer Weltphysik, einer Theorie des Makrokosmos aufstieg, Wilhelm. v. H. mit gleich starkem Triebe nach Universalität und Totalität die Idee einer Humanitätslehre, einer Theorie des menschlichen Mikrokosmos in sich aus; eine Idee, die, von Jugend auf in ihm vorbereitet, ihn von da an niemals verlassen und am Ende in seiner Sprachphilosophie eine zwar unvollständige, aber großartige Ausführung gefunden hat.

Dieselbe Idee nun leitet hinüber zum nächsten Abschnitt in Humboldt’s Leben, zur Periode seiner Reisen und seines Aufenthalts im Ausland, 1797 bis 1808; vergleichende Anthropologie hat ihn in die Ferne gelockt und dort vorzugsweise beschäftigt. Wenn er schon im Sommer 1796 einen raschen Ausflug nach dem deutschen Norden unternommen, dessen Hauptertrag die persönliche Bekanntschaft mit Voß bildete, so wurden große Reisen ihm wie dem Bruder doch erst möglich nach dem Tode der Mutter, welcher beiden ein beträchtliches Vermögen direct zur Verfügung stellte. Miteinander verließen sie denn im Juni 1797 die Heimath, um über Dresden und Wien im Herbst Italien zu erreichen; allein der Krieg schreckte sie von dort ab, und H. wandte sich mit den Seinen nach Paris, wo er im Spätjahr seinen Wohnsitz aufschlug und, mit einiger Unterbrechung freilich, bis zum Sommer 1801 behielt. Alexanders Beispiel nämlich, der ihm daselbst 1798, bevor er über Spanien nach Amerika ging, eine Zeitlang Gesellschaft geleistet, sowie der Wunsch, doch irgend ein Stück echten Südens anschaulich kennen zu lernen, bewog auch den älteren Bruder im Herbst 1799 zu einer halbjährigen Rundfahrt durch die iberische Halbinsel; ja die Neigung, die er dabei für die Erforschung des Baskischen gefaßt, rief ihn im Frühling 1801 noch einmal auf mehrere Wochen nach Gascogne und Biscaya. Immerhin umspannt die Pariser Existenz Humboldt’s drei volle Jahre; aber so behaglich ihm auch die Liebenswürdigkeit der Gemahlin sein Hauswesen zum Schauplatz geistreicher Geselligkeit einzurichten wußte, dennoch hat er sich dort, was sich von dem eiligen und unbequemen Zuge durch Spanien ohnehin von selbst versteht, nie eigentlich heimisch gefühlt. Denn gemüthlich ward er in seiner nationaldeutschen Empfindung gerade durch den Rückschlag dessen lebhaft bestärkt, was ihn intellectuell so mächtig anzog, das Studium des menschlichen Charakters in der Varietät fremdartigen Volksthums. Beides erhellt deutlich aus der hochinteressanten Correspondenz, durch die er sich mit Schiller, Körner, Wolf, vor allem mit Goethe in Einvernehmen erhielt. Charakteristik der Franzosen ist das Hauptthema dieser Briefe. Kein Wort dabei von Politik, um die er sich nicht im mindesten kümmert; selbst die Historie streift er nur leicht, wie z. B. wenn er die französische Gesichtsbildung an den Denkmälern im Augustinermuseum durch alle Zeitalter in scharfsinnigem Vergleiche verfolgt. Desto eindringender behandelt er jene Frage vonseiten der ästhetischen Kritik; er untersucht und erörtert meisterhaft in Litteratur und Malerei, vornehmlich aber in den darstellenden Künsten des Theaters das specifisch Französische, das er natürlich am häufigsten durch den Gegensatz des Deutschen erläutert. Innig erfreut brachte Goethe außer anderen kürzeren Briefstücken die ganze schlagende Ausführung des Freundes „über die gegenwärtige französische tragische Bühne“ in seinen Propyläen zum Abdruck. Auf spanischem Boden tritt dann noch die eigenthümliche Landesnatur als Hintergrund der Volksexistenz hinzu, wie am besten die glänzende Schilderung des Montserrat darthut, die ebenfalls für die Propyläen bestimmt, doch erst 1803 in einem geographischen Journal veröffentlicht ward. Bei weitem das wichtigste aber war, daß H. hier von dem frappanten Eindruck, den die originelle Physiognomie des baskischen Völkchens auf ihn machte, den Anstoß zur Vertiefung in dessen merkwürdige Sprache empfing. Linguistische Gesichtspunkte thun sich zwar schon in seinen Studien über den französischen Nationalcharakter bedeutend [348] hervor; bald nach seiner Ankunft in Paris, im December 1797, spricht er gegen Körner den Satz aus, daß für die Kultur einer Nation schlechterdings nichts so wichtig sei als ihre Sprache, in solchem Sinne setzt er dann Goethe den Vorzug des Französischen vor dem Provenzalischen auseinander. Erst das Baskische jedoch reift Ende 1799 in ihm den Entschluß, sich künftig ausschließender dem Sprachstudium zu widmen, eine gründlich und philosophisch angestellte Vergleichung mehrerer Sprachen als ernste Arbeit auf seine Schultern zu nehmen. Die Geschichte unserer Sprachforschung hat Ursache, diese individuellen Daten neben ähnlichen aus dem Entwickelungsgange der Bopp und Grimm im Gedächtniß zu behalten. Für Humboldt’s äußere Lebensführung lag in dem ausgesprochenen Vorsatz insofern eine Wendung als es nun nach der einschränkenden Umänderung der anthropologischen in eine linguistische Tendenz für ihn persönlicher Anwesenheit im Auslande kaum mehr bedurfte; und wirklich sehen wir ihn heimkehren, sobald er sich auf jener zweiten baskischen Reise in Besitz des nöthigen sprachwissenschaftlichen Materials gesetzt. Wenn er trotzdem nach fünfviertel Jahren im Herbst 1802 Berlin aufs neue den Rücken wendet, so erklärt sich das aus einem günstigen Zufall. Nach Italien hatte ja ursprünglich sein Verlangen gestanden, Frankreich sowol wie Spanien waren ihm bloße Surrogate dafür gewesen. Jetzt ward ihm auf Beyme’s Vorschlag der Posten des preußischen Ministerresidenten in Rom an Uhden’s Stelle angeboten, und gern ergriff er, sparsam wie er war, die Gelegenheit, in einem geschäftlich durchaus nicht drückenden, so gut wie unpolitischen Amte den nur vertagten Herzenswunsch zu befriedigen. So geschah es, daß erst ein sechsjähriger Aufenthalt an der Tiber sein romanisches Decennium, das vierte seines Lebens, das der Wanderjahre, zum Abschluß brachte. Rom nun erfüllte H. reichlich, was er sich von ihm versprochen. Seine officielle Thätigkeit, als unbewußte Vorübung zu ernsterem Beruf immerhin schätzbar, hatte an sich allerdings nicht viel zu bedeuten; indem sie jedoch, ihrer mehr consularischen als hochdiplomatischen Natur gemäß, ihm die urbane Pflege interessanter Privatbeziehungen zur angenehmen Pflicht machte, erhob sie ihn und sein Haus zum Centrum vielseitig angeregten Verkehrs für Römer und Barbaren. So gewann er, wesentlich unterstützt durch die Gattin, die ihn an Verständniß der Malerei überragte, während ihn zur Plastik unmittelbar der Geist des Alterthums hinzog, alsbald vertraute Fühlung mit den aufstrebenden Erneuerern der Kunst, den Thorwaldsen, Rauch, Schick und Genossen. Durch Kauf und Bestellung hat er schon damals den Augentrost seines Alters begründet, die kleine, aber edle Tegeler Sammlung, welche ihm nach 1815 der Dank des wiederhergestellten Pius VII. durch Geschenke vermehren half; zugleich erwarb er, was wichtiger war, jene Fülle von Anschauung und Urtheil, die hernach in Berlin der Einrichtung des Museums und der Stiftung und Leitung des Kunstvereins zustatten kam. Wenn er übrigens eine wahrhaft wissenschaftliche Luft in Italien entschieden vermißte, so betrieb er desto ungestörter sein stilles Sprachstudium, worein ihm nun auch Lectüre und Uebersetzung der Klassiker mehr und mehr aufging. Jetzt (1804) glaubt er die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu brauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannichfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren. Kostbaren Stoff dazu entnahm er den Bibliotheken der Propaganda; noch selteneren übergab ihm 1805 beim Wiedersehen der von Amerika zurückgekehrte Bruder. Man sieht, wie mancherlei künftigen Segen auch diese römischen Jahre für H. in sich bargen; trotzdem muß man sie wol als die bedenklichste Zeit in seinem Leben bezeichnen, denn im Zauber ihrer Gegenwart gerieth er in Gefahr, in Gedankenschwelgerei zu verweichlichen. Unter den Humanisten aller Jahrhunderte ward kein anderer so gewaltig von der Idee und der Erscheinung Roms ergriffen; sogar Goethe weiß in seinem Winckelmann [349] „jenen großen Zustand“ nicht ausdrucksvoller zu beschreiben, als durch die berüchtigte Kraftstelle einer römischen Epistel Humboldt’s. Ob auf den sieben Hügeln selbst oder in der Sommerfrische der Albanerberge, durch alle Sinne strömt in seine Seele wie aus einem mystischen Symbol die Empfindung jenes Ganzen der Menschennatur und -geschichte, nach dessen Erkenntniß sein Verstand so lange getrachtet; eben deshalb stand zu befürchten, daß er hier, in Genuß versunken, der Arbeit allgemach vergessen werde. Denn daß zu poetischer Befreiung seine Gestaltungskraft nicht hinreichte, beweisen recht deutlich gerade die 1806 an Frau v. Wolzogen gerichteten Stanzen zum Preise Roms, gleich Humboldt’s übrigen elegischen und didaktischen Gedichten ein formell mißlungener Versuch in Schiller’s Manier. Als er dann zwei Knaben als Opfer des Klimas an der Pyramide des Cestius bestatten mußte, ward seine Liebe zu dem erinnerungsreichen Boden nur noch herzlicher. Kein Wunder, daß ihn selbst die Katastrophe des Vaterlands nur mühsam losriß: mit der dringenden Hoffnung auf baldige Rückkehr kam er im Herbst 1808 über die Alpen. Nicht ohne List vermochte die Geschichte für ihre höheren Zwecke seiner habhaft zu werden.

Humboldt’s eigenes Vermögen war in den durch die zweite Theilung Polens an Preußen gefallenen Landschaften hypothekarisch angelegt worden und trug seit dem Kriege von 1806 keine Zinsen mehr; Anfang 1809 ward sogar das Kapital selber auf mehrere Jahre von der Warschauer Regierung in Beschlag genommen. Tegel kostete jetzt mehr, als es einbrachte; die Dacheröden’schen Güter endlich waren gleichfalls seit der Schlacht von Jena durch Plünderung und Contributionen verschuldet und verfallen, so daß H. den Schwiegervater unterstützen mußte und auch durch dessen Tod (Ende 1809) eine zunächst sehr unfruchtbare Erbschaft überkam. Diese Verhältnisse sind die folgende Zeit hindurch nicht ohne wesentlichen Einfluß auf sein Verharren in den verschiedenen Formen des Staatsdienstes geblieben; sie bildeten wol noch 1817 einen Beweggrund zur Annahme der belohnenden Staatsdotation, wozu er sich die stattliche Herrschaft Ottmachau in Schlesien auserlas. Indessen soll dadurch das Verdienst seiner inneren Umkehr nimmermehr geschmälert werden; denn wenn er auch um jener Privatangelegenheiten willen von Rom aufbrach, so geschah es doch zugleich mit dem ausgesprochenen Vorsatz, in Deutschland, an das er sich durch das Unglück der Zeit in tiefer Seele enger geknüpft fühlte, muthiges Streben und selbstbewußte Haltung zu zeigen und zu verbreiten. In dieser Stimmung traf ihn am 6. Januar 1809 zu Erfurt der dem Könige durch Stein selber empfohlene Antrag, in der nach dessen Abgange gebildeten Regierung unter dem Minister des Inneren, Humboldt’s altem Universitätsgenossen Alexander Dohna, die Section für Kultus und Unterricht zu übernehmen. Sein zusagender Entschluß ward erleichtert durch die nahe Aussicht auf den Untergang des Kirchenstaates; ohne Zweifel aber gab die positive Erwägung seiner Pflicht gegen das Vaterland den Ausschlag. Allerdings galt es dabei nicht blos, dem Ideal der eigenen Lebensführung vorläufig zu entsagen; auch der politischen Theorie, die er vor 16 Jahren rücksichtslos entwickelt hatte, mußte sich H. nun bereit machen mit aller Kraft entgegenzuhandeln. Ohne Zaudern gab er auf, was von seinen Lehrsätzen der lebendige Weltlauf gerichtet; der Mann, welcher einst jegliches Bemühen des Staates um öffentliche Erziehung für eitel, ja für schädlich erachtet, nahm nun ebendiese Aufgabe von Staatswegen mit ernster Freudigkeit in die Hand. Noch im Januar eilt er nach Berlin, im April nach Königsberg, wo bis zum Ende des Jahres der Sitz der Regierung blieb; 1810 wirkt er dann in Berlin weiter, auch nach der Mitte Juni erfolgten Ernennung zum Gesandten in Wien noch bis zur Abreise, Mitte August, im bisherigen Beruf unermüdlich thätig. Ein Ministerium von nur anderthalbjähriger Dauer; allein an ihm haftet nicht blos [350] der ruhmvollste Theil von Humboldt’s Andenken, es macht zugleich in der preußischen Staatsgeschichte, von Scharnhorst’s verborgenem Wirken abgesehen, den einzigen, aber desto glänzenderen Ehrentitel für jenes Interregnum zwischen Stein und Hardenberg aus. Großes in so kurzer Frist zu leisten war indeß nur möglich durch die Verbindung zweier Eigenschaften, von denen die eine, zäh ausharrender Fleiß, von H. in seinen gelehrten Privatstudien längst geübt worden war, die andere jedoch, nach so geringen Beweisen wirklicher Produktivität auf litterarischem Gebiete, jetzt fast überraschend an ihm hervortritt, die Gabe abzuschließen, ein Ergebniß bei sich festzustellen und alsdann bei anderen durchzusetzen. Mit einem Wort: der eingefleischte Theoretiker enthüllte sich als ausgezeichneter Geschäftsmann; er zeigte sich als solchen auch in der Arbeitstheilung, in der Benutzung der ihm zugesellten oder untergebenen Kräfte. Mit taktvoller Zurückhaltung ließ er im Kultus Nicolovius walten; im Schulwesen bedurfte der treffliche Süvern meist nur der Unterstützung. Indem er diese im entscheidenden Moment gewährte, erwarb sich H. eigenes Verdienst um die Einführung der Pestalozzi’schen Methode, die er früher verkannt, in den Elementarunterricht, sowie um die der Folgezeit maßgebende Reform der Gymnasien, wobei er auch Wolf zu Rathe zog. Auf Goethe’s Fürwort überwand er seine an Widerwillen grenzende Abneigung gegen die Tonkunst soweit, daß er dem Vorschlage Zelter’s, dem er eine akademische Professur verschaffte, zur öffentlichen Hebung besonders der kirchlichen Musik sehr eindringende Gründe lieh. Wie frei er überhaupt dastand von dünkelhaftem Vertrauen in die Einsicht der Behörde als solcher, beweist die ideale Instruktion, die er für die wissenschaftliche Deputation entwarf, ein aus den ersten Gelehrten zusammengesetztes Organ, welches der im Lauf der Praxis befangenen Verwaltung die reinen Grundsätze der höchsten allgemeinen Bildung stets vor Augen halten sollte: wie schmerzlich war es ihm, daß der alte Freund Wolf die eigens für ihn zubereitete Stelle eines Directors dieser Deputation in hochmüthigem Mißvergnügen von sich stieß! Durchaus selbständig aber und mit der ganzen Energie kaltblütiger Begeisterung hat H. auf dem Felde des Universitätswesens gearbeitet. Königsberg ward durch Berufung hervorragender Docenten und durch den Entschluß zur Errichtung seiner bald so wichtigen Sternwarte einer neuen Blüthe entgegengeführt; Frankfurt erhielt in seiner provisorischen Fortdauer Aufmunterung und Beihülfe; Breslau ward als künftige Bildungsstätte der katholischen Theologen in Aussicht genommen. Alles Andere jedoch tritt weit in Schatten gegen die Gründung der Berliner Hochschule; daß und wie sie zustande kam, ist unstreitig Humboldt’s Werk. Wie viel auch seit zehn Jahren im stillen, seit 1807 laut und öffentlich davon geredet, geschrieben und gedruckt worden, noch war die Schwelle nicht überschritten, die den Gedanken von der Handlung trennt; ja der schon ausgesprochene Vorsatz war eben im Gedränge der Worte und Wünsche wieder wankend geworden. Auch H. ward einen Augenblick von dem Bedenken angewandelt, ob der Hauptsitz der Staatsregierung einen gedeihlichen Boden für die freie Pflege der Wissenschaft darbiete; dann ergriff er gerade die Idee einer organischen Verbindung aller Kulturanstalten der Residenz mit Entschiedenheit. Insbesondere der Akademie der Wissenschaften dachte er durch ein richtiges Maß von Anlehnung und Absonderung ein höheres Dasein neben der Universität zu verschaffen und hat in der That eben durch die Stiftung der letzteren auch für die erstere eine neue Aera eröffnet, die dritte seit Leibniz und Friedrich d. Gr., die nicht wieder gleich den früheren in Verfall ausgemündet ist. Aber auch die Kunstinstitute sollten mit denen der Gelehrsamkeit in Wechselwirkung treten, sodaß der zu Anfang 1810 von anderer Seite her auftauchende Vorschlag zur Gründung eines Museums sofort vom Könige selbst an den Generalplan Humboldt’s angeknüpft werden konnte, welchem dann [351] zwanzig Jahr später mit Recht eine Hauptrolle bei der Ausführung jenes Vorschlags zufiel. Vorderhand mochte es schon als ein Wunder erscheinen, daß der so tief gedemüthigte und ermattete Staat auch nur zu der einen, wichtigsten Schöpfung Muth und Stärke fand. Erst als H. sich von der Möglichkeit des Gelingens überzeugt, überreichte er am 24. Juli 1809 den am 10. verfaßten Antrag auf Gründung einer Universität in Berlin und deren Ausstattung mit einem Domanialvermögen von 150,000 Thaler jährlichem Ertrag. Er hat in diesem und in späteren Aktenstücken der politischen und nationalen Bedeutung des großen Unternehmens für Gegenwart und Zukunft in schlichten Worten hinreißenden Ausdruck gegeben. Untrennbar fiel ihm dabei das deutsche Interesse mit dem preußischen zusammen; während er (im April 1810) die von Friedrich d. Gr. aus engherziger Wirthschaftspolitik aufgehobene Freizügigkeit der Preußen nach allen deutschen Hochschulen unbedingt wiederherstellte, sollte Berlin jetzt umgekehrt der deutschen Wissenschaft, während sie rings von Krieg und Fremdherrschaft verscheucht ward, die letzte, kaum noch gehoffte Freistatt aufthun. Eben dies aber sollte wiederum dem Staate Preußen das beste, ja einzige Mittel gewähren, um die Achtung der Nation zu gewinnen, durch einen eigenthümlichen Vorzug den ersten Rang in Deutschland zu behaupten und über seine eigenen Grenzen hinaus auf die intellektuelle und moralische Richtung desselben den entschiedensten Einfluß auszuüben. In diesem, ebenso patriotischen wie idealistischen Geiste hat denn H., nachdem der König am 16. August seinen Antrag in allen Stücken genehmigt, ein Jahr lang mit siegreicher Anstrengung daran gearbeitet, die Hindernisse hinwegzuräumen, welche der Unterkunft, Ausrüstung und Einrichtung der Universität noch im Wege standen. Vor allem die Berufung der Lehrer ist die eigenste Leistung seiner Einsicht und Gewandtheit; den Institutionen gab er im Widerstreit der Meinungen eine wahrhaft lebensfähige, zwischen dem historisch Bewährten und dem modern Verständigen vermittelnde Richtung. Als er zum allgemeinen Bedauern aus dem Amte schied, durfte er doch sich und andere damit beruhigen, daß alles Wesentliche vollbracht sei und die endgültige Eröffnung der nun vollständigen Hochschule unmittelbar, im Herbst 1810, bevorstehe. Aussprüche Goethe’s und Stein’s beweisen, daß er den Besten der Zeit genug gethan; kaum weniger will es besagen, daß er selbst mit seinem Werke zufrieden war. Nur einen Lieblingplan hatte er scheitern sehen: die schon verheißene Fundirung der neuen Anstalt auf ein unabhängiges Eigenthum an Domänen ward wieder aufgegeben, da sie auf gesetzliche Schwierigkeiten stieß. Hat H. deshalb schon Ende April 1810 um seine Entlassung gebeten, so ließ er sich doch bewegen zu bleiben; warum er ein paar Monat später bei Hardenberg’s Erhebung wirklich ging, ist nicht ganz deutlich zu erkennen. An der erbärmlichen Hauptpolitik des Ministeriums Altenstein muß der neue Staatskanzler H. keinen Antheil beigemessen haben, denn er schlug sogar dessen Beförderung zum Chef des gesammten Inneren vor; das jedoch versagte der König, der die oberste Leitung der geistlichen Angelegenheiten nicht in die Hand eines so unkirchlichen Mannes gelegt wissen wollte. Ob man H. alsdann auch für seine bisherige Position Bedingungen stellte, oder ob ihn selber die Centralisation der Regierung abschreckte, die Hardenberg für nöthig hielt? Man erfährt aus seinen Briefen nur, daß ihm durch sonderbare Umstände das Bleiben auf durchaus unabhängige Weise nicht möglich gewesen sei. Seine Ernennung zum Gesandten in Wien erschien ihm als ehrenvoller und befriedigender Ausweg.

Damit beginnt denn seine eigentlich diplomatische Laufbahn, welche, im Wiener Congreß gipfelnd, bis zum Sommer 1819 fast neun Jahre durchmißt; die geräuschvollste Zeit seines Lebens und für die oberflächliche Ansicht auch die glänzendste; in der That aber ist darin von seiner wahrhaft individuellen Bedeutung [352] verhältnißmäßig wenig zur Erscheinung und Wirkung gelangt. Die Ehre der Mitarbeit an der Wiederherstellung Preußens, Deutschlands, Europas hat er redlich verdient durch gewissenhaftes Streben, eisernen Fleiß, würdige Gesinnung und Haltung. Allein da er für das tiefste Bedürfniß seiner Seele, den Verkehr mit Ideen, in der materiellen Welt der äußeren Politik keinen rechten Boden fand, so hat er leidenschaftliche Hingabe diesen Geschäften kaum je bewiesen: er behandelte sie vielmehr mit der dialektischen Virtuosität des bloßen Verstandes, dessen schneidende Schärfe den Kern der Sache gar häufig im Herauschälen zerstörte. Metternich tadelt deshalb sein krickeliges Wesen, Talleyrand bezeichnet ihn als den eingefleischten Sophismus; niemandem war wohl zumuthe bei der bitteren Kälte, mit der er dem Treiben des Ehrgeizes und der Interessen ringsumher wie der Recensent dem Schauspiel zusah. Uebrigens trägt für den Gang der Dinge im Großen und Ganzen natürlich weit minder H. als Hardenberg die Verantwortung, welcher leider überdies den beigeordneten diplomatischen Gehülfen von Anfang an mit Mißtrauen und allmählich sogar mit eifersüchtigem Haß betrachtet hat. Als H. sich im Herbst 1810 auf seinen Posten begab, versäumte er nicht, unterwegs in Prag die persönliche Bekanntschaft Stein’s zu machen; seitdem hielt gegenseitige Hochschätzung und Uebereinstimmung in den wesentlichen politischen Tendenzen beide so grundverschiedene Naturen in ernster Freundschaft stetig verbunden. Die Wiener Gesandtschaft hat dann H. bis zum Frühling 1813 wirklich gewährt, was er von ihr erhofft: eine Zeit relativer Muße, die er nach Gefallen zur Fortsetzung seiner Sprachstudien benutzte. Denn in jenen Jahren der Geduld lag dem Vertreter Preußens dort nur die bescheidene Aufgabe ob, in behutsamer Fühlung mit der gleichfalls gelähmten Politik Oesterreichs bessere Tage abzuwarten. Darüber hinauszielende Versuche, das Wiener Kabinet zu positiven Entschlüssen zu bestimmen, betrieb Hardenberg mit extremer Vorsicht meist hinter Humboldt’s Rücken, theils in eigener geheimer Correspondenz, theils durch Absendung besonderer Unterhändler. Erst der Waffenstillstand vom 4. Juni 1813 und der Eintritt Oesterreichs in die diplomatische Aktion, die im August durch die kriegerische abgelöst ward, führte H. mitten auf die große politische Bühne. Bald im preußischen Hauptquartier zu Reichenbach, bald drüben in Gitschin, Ratiborschitz oder endlich auf dem Prager Congreß hat er eben jene verhängnißvolle Wendung Oesterreichs, die er mit überwiegender Zuversicht erwartet hatte, und den nun erst allgemeinen Bruch Europas mit Napoleon in geschickter Negotiation erleichtert und befördert. Froh gab er in der Mitternacht des 10. August vom Hradschin das verabredete Feuerzeichen zum entscheidenden Feldzuge, dem auch er nun mit ungewöhnlicher Begeisterung folgte, zufrieden, den kaum erwachsenen Sohn unter den Freiwilligen im Kampfe zu wissen. Teplitz, Frankfurt, Chatillon und Paris bilden die weiteren Staffeln seiner Thätigkeit, zugleich freilich seiner beginnenden Enttäuschung über die Gesinnung der Bundesgenossen inbetreff Preußens und Deutschlands. Hardenberg’s sanguinisches Geschehenlassen beizeiten ernstlich zu durchkreuzen hat er theils nicht versucht, theils nicht vermocht; der Mißgunst der Fremden gegenüber richtete beim Abschluß des ersten Pariser Friedens all seine Zähigkeit nur wenig aus. Nachdem er den König auf seinen Ausflügen nach England und der Schweiz begleitet, begegnen wir ihm wieder in Wien als zweitem Bevollmächtigten beim Congreß neben dem Staatskanzler. Dort nun hat er eine wahrhaft staunenswerthe Arbeitskraft bewiesen: an allen Conferenzen der Großmächte, der acht Mächte, der deutschen Staaten nimmt er Theil, den meisten Ausschüssen gehört er an und führt daneben eine Menge Separatverhandlungen; von ihm stammt der Entwurf zur Geschäftsordnung der Versammlung, er ist mit der Redaction ihrer Beschlüsse beschäftigt; Zahl und Umfang seiner Denkschriften und Noten erregen [353] Bewunderung. Gebührt demnach an der universalhistorischen Gesammtleistung des Congresses seinem Fleiß und Scharfsinn ein erheblicher Antheil, so sind noch insbesondere dessen heilsame Bestimmungen über die Freiheit der Flußschiffahrt vorzüglich seinem Geist und Geschick zu verdanken. Andererseits trifft wegen der neuen diplomatischen Niederlagen Preußens in der eigenen wie in der deutschen Sache auch ihn insofern ein Vorwurf, als er den Wahn einer solidarischen Gemeinschaft der mitteleuropäischen Mächte gegenüber Frankreich und Rußland, vor allem die Illusion über Oesterreichs wahre Absichten, nicht blos mit Hardenberg getheilt, sondern eine Zeit lang in diesem geradezu genährt hat. So kam es zum üblen Ausgange des sächsischen Handels sowie zur nichtigen Lösung der nationalen Frage durch die Bundesakte, an deren Gebrechen freilich, soweit der gute Wille in Betracht kommt, kein Mensch unschuldiger ist als H., der in unermüdlichem Eifer wieder und wieder mit ausführlichen Plänen hervortrat, um in ehrlich dualistischer Machtvertheilung zwischen Wien und Berlin Deutschland eine nach außen kräftige, nach innen rechtliche und freisinnige Verfassung zu schaffen. Auch mit dem Congresse jedoch war die Reihe der trüben Erfahrungen noch nicht vorüber; nach der Schlacht von Belle-Alliance abermals nach Paris gerufen, strengte H. vergebens in der meisterhaften Widerlegung eines Memoires von Capodistria seine ganze Kunst, ja diesmal sogar seinen gerechten Zorn an, um uns Elsaß-Lothringen im zweiten Frieden heimzugewinnen; es war ihm ein geringer Trost, wenn bei der Reklamation der geraubten Kunst- und Geistesschätze, unter anderen auch der Heidelberger Bibliothek, seine Energie mit besserem Erfolge gekrönt ward. Ende November 1815 verließ H. Paris und ging nach Frankfurt, wo er bis in den Januar 1817 Preußen in der Territorialcommission vertrat, welche die neuen Gebietsanordnungen durchzuführen hatte. Er wohnte währenddeß auch der Eröffnung des Bundestages bei und richtete am 30. September 1816 an Hardenberg einen neuerdings (im 9. Band der Zeitschrift für preußische Geschichte) veröffentlichten Aufsatz zur Richtschnur für die preußische Bundespolitik, der mit der nüchternsten Einsicht in die Schwierigkeit der Lage doch die Hoffnung auf moralische Eroberungen verbindet. Da die französische Regierung Humboldt’s Sendung nach Paris, wohin er selbst geschickt zu werden wünschte, unterm Vorwand nationaler Empfindlichkeit verbat, ward er nun für den Londoner Gesandtschaftsposten in Aussicht genommen, kehrte jedoch zunächst nach Berlin zurück, wo seine Ernennung zum Mitglied des neugegründeten Staatsraths, im März 1817, ihn mit der inneren Politik in flüchtige, aber persönlich bedeutsame Berührung brachte. Denn die vernichtende Kritik, die er als Vorsitzender des Finanzauschusses an den Steuervorlagen des Ministers Friedrich v. Bülow, eines Vetters von Hardenberg, übte, und der Eindruck dieser Scenen auf die Betheiligten steigerten den Groll des alternden Staatskanzlers gegen den vermeintlichen Nebenbuhler bis zur Furcht. H. ward im Herbst auf beinah hinterlistige Weise nach London entfernt, wo er nichts wichtiges zu thun fand, während die reconstruirten Ministerien des Unterrichts und des Aeußeren an Altenstein und Bernstorff vergeben wurden. Wiederholt forderte er seine Enthebung, ließ sich indeß auf dem Aachener Congreß, wo er im November 1818 von England her eintraf, unter Zusicherung seiner baldigen Berufung ins Ministerium noch einmal mit einem diplomatischen Auftrage betrauen, mit der Vollendung jener Arbeiten der Territorialcommission, die ihn dann noch bis in den Juli 1819 in Frankfurt festhielt, während schon am 11. Januar auf Witzleben’s Betrieb seine Ernennung zum Minister des Inneren erfolgte; mit halbirtem Geschäftskreise zwar, jedoch so, daß die ständischen und Communalangelegenheiten, die wesentlichsten in jener Epoche des Staatslebens, ihm eigens zugewiesen wurden.

[354] Zum zweiten Male, wie vor zehn Jahren, sah sich H. so vor eine staatsmännische Aufgabe gestellt, für deren Lösung er nach dem Urtheil der Nachwelt sowol wie der Zeitgenossen vor allen anderen befähigt war. Nicht an ihm hat es gelegen und wahrlich nicht um seines Ruhmes willen allein ist es zu beklagen, daß ihm dennoch nicht beschieden ward, mit demselben Recht der Gründer der preußischen Verfassung wie der der Berliner Universität zu heißen. Sofort nach seiner Ernennung ergriff er das große Problem mit ganzem Ernste; an Stein, der damals in Frankfurt anwesend ihm bereitwillig mancherlei Material zur Verfügung stellte, hat er am 4. Februar 1819 die 157 Paragraphen zählende Denkschrift gerichtet, in deren Inhalt man heut ohne Vergleich das reifste und tiefste erkennt, was in jenem Jahrzehnt über Verfassungsfragen gedacht worden. Sie verdient dies Lob vornehmlich durch die milde Versöhnung historisch-conservativer mit theoretisch-liberalen Tendenzen, durch den festen Aufbau des parlamentarischen Systems auf dem Princip der lokalen und provinzialen Selbstverwaltung, durch die kräftige Herrschaft endlich des Grundgedankens der Staatseinheit über alle Theile des umfassenden Organisationsplanes. Sie bezeichnet zugleich den Gipfel der Staatsphilosophie Humboldt’s, indem sie seinem früher so einseitigen Individualismus in der Idee der politischen Selbstthätigkeit des Einzelnen zuguterletzt, ohne ihm die Spitze abzubrechen, eine corporative Wendung gibt. Für die praktische Ausführung der gesammten Reform setzte H. als Schlußtermin das Jahr 1822, spätestens 1823 an; allein es war ihm nicht vergönnt, auch nur die Hand ans Werk zu legen. Am 12. August 1819 ward er in Berlin ins Ministerium eingeführt, einige Tage drauf ein Verfassungsausschuß gebildet, dem jedoch erst im October ein ziemlich dürftiger Entwurf aus Hardenberg’s Feder zur Grundlage der Berathung überwiesen ward. Kaum hatten zwei Sitzungen stattgefunden, als die Publication der Karlsbader Beschlüsse H., der in ihnen formell die Unabhängigkeit der deutschen Politik Preußens und materiell deren nothwendige Richtung aufgegeben sah, zur entschiedenen Opposition herausforderte. Nachdem ein Angriff auf Bernstorff an der Mitschuld des Königs selber abgeprallt war, versuchte H., hauptsächlich von Beyme und Boyen unterstützt, dem Ministerium ein freieres Verhältniß zum Monarchen anstatt der ausschließlich dominirenden Stellung des Staatskanzlers zu erstreiten. Hardenberg glaubte zwischen dem eigenen Fall und dem Sturze des Gegners wählen zu müssen; zu dem persönlichen Zwecke mit den Feinden der Verfassung verbündet, bewog er den König, als Boyen wegen des Landwehrzwistes den Abschied verlangte, mit diesem zugleich auch H. und Beyme, am 31. December 1819, aus dem Amte zu entlassen. H. verlor sogar den Sitz im Staatsrath, der ihm erst 1830 nach der Julirevolution des populären Eindrucks halber wieder eingeräumt ward; denn natürlich galt er, zumal seit dem Scheitern der constitutionellen Bestrebungen, im Publikum für das Haupt der Liberalen. Umsonst bemühte sich daher der treue Witzleben, ihn Anfang 1823 nach Hardenberg’s Tod an die Spitze der Regierung zu bringen. Direct hat er nie wieder mit politischen Dingen zu thun gehabt, lehnte er doch auch die ansehnliche Ministerpension vornehm ab; doch besaß das Urtheil, das er in dem schlagenden Brief an Vincke vom 29. November 1821 abgab, noch Gewicht genug, um den unglücklichen Gedanken an Provinzialministerien zu beseitigen, während die halbe Maßregel der Einführung von Provinzialständen ohne Reichsstände durch seine prophetischen Warnungen nicht verhindert werden konnte.

Wie berechtigt auch die patriotischen Klagen sein mögen, die man damals und später seinem Rücktritt ins Privatleben nachgerufen, H. selbst erblickte darin eine Heimkehr in seine wahre Welt. Die anderthalb Jahrzehnte, die ihm noch beschieden waren, nahmen demgemäß einen durch geistige Concentration vereinfachten [355] Verlauf: sein Thun geht auf in Wissenschaft, sein Genießen in Beschauung. Die wenigen Ausnahmen entfernen sich doch nicht weit von dieser Regel; so, wenn er 1825 den Verein der Kunstfreunde im preußischen Staate mitbegründet und alsdann dauernd leitet, oder wenn er 1829–30 als Vorsitzender der dazu bestellten Commission auf die innere Gestaltung des Berliner Museums so entscheidenden Einfluß ausübt, daß man in dessen Geschichte bis auf den heutigen Tag an den besten Seiten der Verwaltung das klare Gepräge seiner Grundsätze erkennt und rühmt. Er erntete in diesen praktischen Leistungen ebenso wie in den gleichzeitigen theoretischen Schilderungen der Charaktere unserer klassischen Dichter die Früchte der ästhetischen Arbeit seiner früheren Jahre. Nicht minder ist der Saat älterer Gedanken die im April 1821 der Berliner Akademie vorgetragene Abhandlung über die Aufgabe des Geschichtschreibers entsprossen; wie sie H. selber bald darauf Goethe gegenüber als die Entwicklung eines paradoxen Wortes von Schiller bezeichnet hat, so schreibt sie in der That der Historiographie hochidealistische Bahnen vor, die an des letzteren poetisch und philosophisch beflügelte Versuche auf diesem Felde lebhaft erinnern. Alle übrige und zwar die wahrhaft fortschreitende, höchst originelle Geistesthätigkeit Humboldt’s seit 1820 gehört der Sprachwissenschaft an; merkwürdig kam er dadurch einer mächtigen Bewegung der Zeit entgegen und trat mit ihr in segensreiche Wechselwirkung. Die altgepflegten baskischen Studien hatten schon 1812 und 1817 einige litterarische Erträge linguistischer Richtung geliefert; sie wurden nunmehr für sich abgeschlossen durch die 1821 publicirte „Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens“, die einzige Schrift, in welcher H. die Sprachforschung ausschließlich im Dienste der Völkerkunde und der Urgeschichte verwendet, dafür aber auch ein seltenes Muster der für ein solches Unternehmen streng gebotenen kritischen Behutsamkeit. Längst jedoch war es ihm außerdem um eine ebenso eindringende wie umfassende Kenntniß mannichfacher anderer Sprachen zu thun gewesen; denn die früh ergriffene anthropologische Idee der Sprache überhaupt als der natürlichen Kunstfertigkeit des Menschen, welche dessen geistiges Wesen am vollkommensten ausdrücke und wiederum rückwirkend am entschiedensten bedinge, diese Idee hoffte er einer philosophischen Darlegung doch allein auf dem Wege sammelnder und vergleichender Empirie entgegenführen zu können. Zu diesem Ende ergänzte er bis 1820 einerseits seine Kunde der europäischen Idiome, wie er z. B. 1811 in Wien Ungarisch lernte, andererseits warf er sich, durch Zufall und Gelegenheit gelockt und begünstigt, begierig auf das weite, noch fast unerforschte Gebiet der amerikanischen Sprachen. Und bald errang er in der Stille die sicherste Herrschaft über dies Gebiet; schon im Mai 1821 hat er ein Dutzend besonderer Sprachlehren, am ausführlichsten die mexikanische, fertig ausgearbeitet liegen, und Jahre lang schafft er daran fort, bis ihn neue und höhere Zwecke bestimmen, das ganze massenhafte Material geringeren Händen zu directer linguistischer Ausnutzung zu hinterlassen. Auf der Schwelle nun seiner letzten Lebensperiode glaubte er sein ideales Ziel schon mit den bisher erworbenen Mitteln erreichen zu können; die Abhandlung „Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung“, die erste, die er – am 29. Juni 1820 – der Berliner Akademie vorlegte, entwirft in bedeutenden Grundlinien ein Programm der ihm vorschwebenden Sprachphilosophie; ein Programm, das freilich hinter der späteren Ausführung unendlich zurückbleibt, was sich leicht erklärt, wenn man beachtet, daß darin der Gruppe der amerikanischen Sprachen einzig die einer gelehrten Behandlung längst gewohnten, zuoberst das Griechische, gegenüber stehen. Da begann er Anfang 1821 das Sanskrit zu studiren; noch im nämlichen Jahre zog er Bopp, den er 1817 in London kennen gelernt, persönlich nach Berlin und damit bald den Geist [356] jener vergleichenden Grammatik zu sich herüber, die, zunächst auf den Bezirk des Indogermanischen und in diesem auf die reale Erscheinung der sprachlichen Form beschränkt, ebendeshalb exakte Resultate gewann, welche der Theorie der Sprache im allgemeinen erst ein künstlich brauchbares Werkzeug an die Hand gaben. Vom ersten Augenblick an fühlte H., wie ihm hier eine völlig neue Einsicht erschlossen ward: nur durch das Sanskrit, ruft er aus sei ein gründliches und interessantes Sprachstudium möglich; ihm bekennt er sieben Jahre darauf die letzte Reise seiner linguistischen Ideen schuldig zu sein. Es war ihm ein Lebensgewinn wie einst der Eintritt ins Griechische, ja ein höherer, da es sich ihm dicht an das Griechische anschloß, dem er trotzdem auch als Sprache in gewisser Hinsicht stets den Vorrang ließ, während in Sachen der Litteratur sein klassisch befestigtes Urtheil nur ein einziges Mal durch die Bhagavad-Gita erschüttert ward, welche ihn als Meisterstück speculativer Dichtung 1825 und 1826 zu zwei umfangreichen Aufsätzen begeisterte. Die Entfaltung seiner Sprachtheorie unterm warmen Anhauch seiner indischen Studien erhellt dagegen am frühesten aus der Abhandlung von 1822 „Ueber das Entstehen der grammatischen Formen und deren Einfluß auf die Ideenentwicklung“; aus der Zahl der späteren genügt es als besonders zarte Blüthen die über den Dualis und über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen (1827 und 1829) hervorzuheben. Mit der Höhe des Standpunktes aber wuchs ihm rasch die Weite des Gesichtskreises. Selbständige Betrachtungen über den Zusammenhang von Schrift und Sprache erhielten Anfang 1824 neuen Schwung durch Champollion’s Hieroglyphendeutung. Abel-Rémusat’s Hinweis auf das Chinesische trieb zur eigenen Bekanntschaft mit diesem anderen Pol der Sprachenwelt an, woraus 1826 die „Lettre sur la nature des formes grammaticales en général et sur le génie de la langue chinoise en particulier“ entsprang. Vorher schon, im Winter 1824 auf 1825, hat er sich sacht im Bereich der Südseesprachen festgesetzt, 1827 aber siedelt er geradezu dahin über und sucht in den malayisch-polynesischen Zungen nach Bindegliedern zwischen Indien und China oder Amerika. Und wenigstens eine indisch-malayische Sprach- und Kulturmischung entdeckt er wirklich in einem alten Poetenidiom der Insel Java und geht ihr nach allen Seiten nach in dem großen Werk „Ueber die Kawisprache“, das unvollendet nach seinem Tode in den Schriften der Akademie 1836–39 ans Licht trat. Dies Werk nun hat H. den unsterblichen Theil seines litterarischen Ruhmes eingetragen durch seine, dem übrigen Inhalt lose angefügte wundervolle Einleitung „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts“. Denn in ihr hat er, 1824 anhebend, seit 1828 stetig fortarbeitend, allmählich die Summe seiner Sprachphilosophie niedergelegt; sie verkörpert seinen Lieblingsgedanken einer Charakteristik des Menschen wenigstens in dessen einfachster und allgemeinster Eigenthümlichkeit, der des redenden Wesens. Man dürfte sie wol im Anklang an die Grundschriften seines Meisters Kant als eine Kritik des Sprachvermögens bezeichnen; sie unterscheidet sich indeß von jenen deutlich dadurch, daß sie der Doppelnatur ihres Objectes gemäß sich beständig an der Grenze ungleichartiger Elemente bewegt: von feinster ideeller Abstraction umweht und doch zugleich getaucht in die gröbere Wirklichkeit der Geschichte, braucht sie sozusagen Segel und Steuer in die Wette. Ein sonderbar schwebender Gang der Darstellung und des Stils, den man auch sonst an Humboldt’s Schriften wahrnimmt, fällt hier vorzüglich stark ins Auge, erhöht jedoch, gerade solchem Inhalt taktvoll angepaßt, den unvergleichlichen Eindruck des Ganzen. Von diesem Inhalt Rechenschaft geben zu wollen, hieße das Werk entweder wiederholen oder vernichten. Seine durchweg organische Lehre vom Ursprung und Wesen, Leben und Wirken der Sprache bildet ja ohnehin nicht blos den generellen [357] Hintergrund für alle speciellen Bemühungen der modernen Linguistik, welcher so die gespendete Hülfe von H. reichlich vergolten ward, sie hat vielmehr auch in der kulturhistorischen Weltansicht der Gebildeten insgemein bereits glücklich die mechanische Auffassung der rein philologischen Doctrin zu verdrängen begonnen. Ein solcher Erfolg aber erklärt sich zumeist daraus, daß H. in seiner Sprachtheorie, ganz ähnlich wie es im Kosmos des jüngeren Bruders geschah, den kühnen Schwung der universalistischen Tendenz des 18. Jahrhunderts mit der umsichtigen Methode wissenschaftlicher Einzeluntersuchung des 19. innig vereinte. Steht er in der deutschen Geschichte überhaupt, wie er einst von Schiller und Goethe zu Hardenberg und Stein hinübertrat, als leibhaftiger Vermittler da zwischen der dichterischen und der politischen Erhebung der Nation, so überragt im besonderen Andenken unserer Litterarhistorie seine Gestalt neben der Alexanders gleichsam als Brückenfigur den geistigen Verkehr zweier Zeitalter.

H. hat den objectiven Werth der gewaltigen wissenschaftlichen Arbeit, die er in seinen letzten 15 Lebensjahren vollbrachte, keineswegs verkannt; dennoch trieben ihn nur subjective Beweggründe dazu an. Weniger als jemals lag ihm jetzt beim Thun am Handeln; einzig nach eigener Klarheit rang er in der Forschung; tief wie nie zuvor versank er in das beseligende Gefühl der menschlichen Harmonie seines inneren Daseins. Seine äußere Existenz zog er deshalb geflissentlich ins Enge. 1828 sah er noch einmal Paris und London, wo nun sein Schwiegersohn Heinrich v. Bülow als Gesandter weilte, und trat mit den Sprachgelehrten beider Hauptstädte gern in förderliche Berührung; sonst unternahm er nur gebotene Reisen, auf seine Güter zu kurzer Inspection, oder ins Bad nach Gastein oder Norderney. Als er 1829 Wittwer geworden, mochte er selbst im Winter nicht mehr in Berlin hausen. Von da an ist er ganz der Philosoph von Tegel, der zwischen seinen Antiken in dem von Schinkel freundlich ausgebauten Schloß, oder unter den Bäumen seines Parks am Grabe der unvergeßlichen Gattin, im Schreiben wie im Denken immer dem einen Ziele nachtrachtet, zu erkennen, „was der Mensch seinem Vermögen nach, das All zu erfassen und selbst mit umzuschaffen, wirklich sei.“ Der tiefste Friede hat sich über sein Wesen ausgebreitet; sein sinnliches Verlangen zerrinnt in wehmüthige Entsagung; abgelegt sind Ironie und Witz, mit denen er sich einst, von Politik und Gesellschaft herausgefordert, so fürchterlich zu wehren wußte; ein frommer Ernst, eine feierliche Hoheit des Gemüthes wohnt auf seinen Lippen wie in seiner Brust. Die Biographie darf hier ausnahmsweise nicht zurückscheuen vorm Allerheiligsten der Persönlichkeit, da sie den Vorhang durch die Litteratur schon aufgehoben findet. Von den Sonetten, die H. diese letzten Jahre über fast täglich, selbst den Seinen verborgen, zu verfassen pflegte, hat der überlebende Bruder einige Hundert bekannt gemacht als „ein Tagebuch, in dem ein edles, still bewegtes Seelenleben sich abspiegelt“; um für mehr zu gelten, bedürften sie, kostbar an Gehalt, aber ungeschickt in der Form wie sie sind, der Umschmelzung durch einen echten Dichter. Unmittelbar sprechen dagegen die „Briefe an eine Freundin“ an, die er ebenso heimlich regelmäßig seit 1822 an eine Jugendbekannte (Charlotte Diede) gerichtet; sie errangen, als sie 1847 veröffentlicht wurden, schnell den lebhaften Dank zumal unserer weiblichen Lesewelt. Denn überaus weich ist allerdings der Ton in ihnen sowol wie in den Sonetten; es ist dasselbe Bekenntniß vollendeter Humanität, wie es aus Briefen und Gedichten des greisen Goethe hervorklingt, aber ohne die Fassung der Kunst und gleichwie aus Frauenmunde gesprochen. Humboldt’s Gesundheit erhielt sich, eine Trübung des Augenlichts ausgenommen, frisch bis ins Alter; ein Rückenmarksleiden, das sich seit 1830 leise den Händen ankündigte, nahm doch erst im letzten Winter eine drohende Wendung. Er starb im Kreise der Familie, die seit acht Jahren auch den heimgekehrten Bruder einschloß, [358] indem er sie zur Heiterkeit ermahnte. Die klassische Ruhestatt, die er für sich und sie in Tegel bereitet, ein hellenischer Friedhof von nordischen Fichten umschirmt, ist ein Abbild seines Sinnes; seiner Statue harrt der geziemende Platz vor der Front der Berliner Hochschule.

G. Schlesier, Erinnerungen an Wilh. v. Humboldt, I–II, 1843–45. – R. Haym, W. v. H., Lebensbild u. Charakteristik, 1856. – R. Köpke, Die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1860 (wo indeß S. 167–69 unter Humboldt Alexander und nicht Wilhelm zu verstehen und danach die Darstellung S. 40 ff. zu berichtigen ist). – Zur Geschichte der königl. Museen in Berlin, Festschrift zum 3. August 1880. – Von den politischen Zeitgeschichten vgl. besonders H. v. Treitschke’s deutsche Gesch. I, 1879 und desselben Abhandlung, Der erste Verfassungskampf in Preußen, Preuß. Jahrb. Bd. XXIX.). – In den unvollständig und nachlässig Gesammelten Werken W. v. H.’s (7 Bde. 1841–52) stehen Bd. I u. V die Briefe an Forster und Wolf. Eigens edirt sind: die Correspondenz mit Schiller 1830, die Briefe an Welcker 1859, an Körner (Ansichten über Aesthetik u. Litteratur von W. v. H.) 1880, an die Freundin 1847, in 2 Bdn. Die Correspondenz mit Goethe s. im III. Thl. der Neuen Mittheilungen aus Goethe’s handschr. Nachlaß 1876, die Briefe an Stein (und die Prinzeß Louise) bei Pertz, Leben Stein’s Bd. III–VI, an Karoline v. Wolzogen in deren Litterar. Nachlaß II, an Henriette Herz in Bd. I aus dem Nachlaß Varnhagen’s 1867; einzelne von Interesse an Campe bei Leyser, J. H. Campe, Bd. II. 1877, an Gentz in dessen Schriften ges. von Schlesier, Bd. V. 1840 etc.