ADB:Herbart, Friedrich

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Artikel „Herbart, Johann Friedrich“ von Carl von Prantl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 12 (1880), S. 17–23, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Herbart,_Friedrich&oldid=- (Version vom 16. April 2024, 22:21 Uhr UTC)
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Herbart: Johann Friedrich H., geb. in Oldenburg am 4. Mai 1776, gest. in Göttingen am 14. Aug. 1841, Sohn eines Justizrathes (s. o.), entwickelte sich in seinen Kinderjahren unter dem bestimmenden Einflusse seiner Mutter, einer geistvollen und energischen Frau, welche sich in mehrfachem Zwiespalte mit ihrem unbedeutenden Gatten befand, aber unablässig auf die Erziehung ihres einzigen, körperlich schwächlichen, Kindes bedacht war und es auch als ihre Pflicht erachtete, stets in den Privat-Unterrichtsstunden desselben anwesend zu sein. So kam es, daß der achtjährige Knabe bereits über die gewöhnlichen Kinderinteressen hinausgeschritten war und die Keime einer ihm fortan bleibenden Begabung einerseits in einer nüchternen Verständigkeit und anderseits in einem entschiedenen musikalischen Talente bekundete. Im J. 1788 trat er in die lateinische Schule ein, in welcher er ebenso wie in den folgenden Gymnasialjahren immer als ein höchst hervorragender Schüler galt und in frühreifer Entwicklung sich schon im 13. und 14. Lebensjahre mit Logik und Metaphysik beschäftigte, so daß er in diesen Dingen nicht ohne Kenntniß war, als ihm in der letzten Classe des Gymnasiums die übliche philosophische Propädeutik nach den Institutiones philosophiae des Wolfianers Baumeister gelehrt wurde; ja auch Kant’s Schriften las er als Gymnasialschüler und wurde hierdurch (schon 1790) veranlaßt, einen größeren Aufsatz über die menschliche Freiheit niederzuschreiben. Zu Ostern 1794 absolvirte er das Gymnasium und bezog die Universität Jena, um dem Wunsche seiner Eltern entsprechend sich der Jurisprudenz zu widmen. Da aber dieses Studium völlig seiner Neigung widersprach, hatte er mit seiner Mutter, welche mit ihm nach Jena umgesiedelt war, in den ersten Semestern manchen schweren Kampf zu bestehen, bis durch Vermittlung derselben der Vater sich zur Nachgiebigkeit bestimmen ließ. Der junge Studirende wurde bald mit Fichte näher bekannt, welcher dort so eben seine Professur mit glänzendem Erfolge angetreten hatte, auch Schiller und Niethammer lernte er kennen und trat in einen litterarischen Verein ein, welcher sich „die Gesellschaft der freien Männer“ [18] nannte. Während auf ihn Fichte’s Vorlesungen und desselben zwei kleinere Schriften über die Wissenschaftslehre (1794) einen nahezu betäubenden Eindruck machten, suchte er zugleich seine Unbefangenheit zu bewahren, indem er logische „Bemerkungen zu Fichte’s Grundlage der Wissenschaftslehre“ niederschrieb. Allerdings näherte er sich bald in einer Abhandlung über die apriorisch-synthetischen Urtheile einigermaßen dem Fichte’schen Ich-Principe in einer an Reinhold’s Vorstellungsvermögen erinnernden Weise; aber durch Schelling’s Auftreten, welcher bekanntlich in seinen ersten Schriften sich völlig auf dem Standpunkte Fichte’s bewegte, wurde er zu erneuter Kritik dieser ganzen jüngsten Wendung der Philosophie veranlaßt, und in solcher Richtung verfaßte er 1796 drei Aufsätze, nämlich: „Spinoza und Schelling“, sowie „Versuch einer Beurtheilung von Schelling’s Schrift über die Möglichkeit einer Form der Philosophie“ und „Ueber Schelling’s Schrift: Vom Ich“. Das Manuscript dieser kritischen Erwägungen theilte er Fichte mit, und die Randbemerkungen, welche dieser dem letztgenannten Aufsatze beifügte, begleitete er seinerseits wieder mit rechtfertigenden Zusätzen. Das sichtliche Ergebniß dieser Erstlingsarbeiten Herbart’s ist, daß er sich nun grundsätzlich von Fichte und Schelling abwandte und seine eigenen Wege zu gehen begann, indem er an Stelle des Ich psychologische Probleme in den Vordergrund stellte. Im J. 1797 nahm er eine Hofmeisterstelle bei v. Steiger-Reggisberg an, welcher mit seiner Familie im Winter in Bern und im Sommer auf seinen dort benachbarten Gütern lebte; sowol die Berichte, welche H. an den Vater seiner Zöglinge erstattete, als auch ein in Engistein (1798) geschriebener Aufsatz „Erster problematischer Entwurf der Wissenslehre“ zeigen die Keime seiner späteren Grundlehren, indem namentlich in letzterem der psychologische Standpunkt eingenommen ist, daß die peripherische Vielheit der Sinnesthätigkeit, welche sich zur beisammenbleibenden Masse der Erinnerung vereinigt, dem Ich-Bewußtsein vorangehen müsse. Von weiterem Einflusse war es auch, daß H. von Bern aus einmal (1799) nach Burgdorf zu Pestalozzi kam und das Unterrichtsverfahren desselben kennen lernte; er hatte sich nemlich bereits bei seiner eigenen erfolgreichen pädagogischen Thätigkeit seine Ansicht über „erziehenden Unterricht“ gebildet, wornach ihm das Entscheidende in der Beachtung des gesetzmäßigen Causalzusammenhanges lag, welcher in der Seele des Zöglings obwaltet, und sowie er hiemit durch die Aufgaben der Erziehung überhaupt auf Fragen der Psychologie geführt wurde, so legte er sich auch die bei Pestalozzi empfangenen Eindrücke wieder nach seinen psychologischen Grundsätzen zurecht. So war in ihm um diese Zeit die Grundlage seines eigenthümlichen Systemes festgestellt, und dieselbe bedurfte nur noch der allmäligen reiferen und allseitigen Durchführung. Im Januar 1800 verließ er Bern und kehrte über Straßburg und Frankfurt nach Jena zurück, wo er von Niemeyer den Antrag erhielt, als Lehrer in das Pädagogium zu Halle einzutreten; er antwortete jedoch ablehnend und begab sich zunächst nach Oldenburg zu seinen Eltern. Da aber die Zwistigkeiten, welche zwischen diesen in gesteigertem Maße walteten, ihm den dortigen Aufenthalt verleideten, ging er nach Bremen zu seinem Freunde Joh. Smidt (nachmaligem Senator und Oberbürgermeister), durch welchen er in geselligen Verkehr mit hervorragenden Männern und Frauen Bremens kam; durch diese Reise wurde er auch veranlaßt, zwei kleinere pädagogische Abhandlungen zu veröffentlichen (1802), nämlich: „Ueber Pestalozzi’s Schrift: Wie Gertrud ihre Kinder lehrte“ und „Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung“; außerdem hielt er im gleichen Jahre im dortigen Museum eine Vorlesung „Ueber den Standpunkt der Beurtheilung der Pestalozzi’schen Unterrichtsmethode“ und schrieb auch einen längeren Aufsatz „Ueber ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“ (beides erst 1804 gedruckt).

[19] Die akademische Laufbahn, welche er nunmehr als seinen Lebensberuf erwählt hatte, betrat er, nachdem in Göttingen, wohin er im Mai 1802 umgesiedelt war, seine Promotion (22. October) und unmittelbar hernach (23. October) seine Habilitation stattgefunden hatte; in den „Thesen“, welche er behufs dieser beiden Acte aufstellte, sagte er sich kurz und bündig von der Fichte-Schelling’schen Richtung los. Er eröffnete sofort seine Vorlesungen, und zwar zunächst über Pädagogik, worauf er im folgenden Sommersemester 1803 über „praktische Philosophie“ las, in welcher er Ethik und Rechtsphilosophie grundsätzlich vereinigt wissen wollte, und während er sodann (1804) Einleitung in die Philosophie und Metaphysik vortrug, ließ er zugleich eine „Kurze Darstellung eines Planes zu philosophischen Vorlesungen“ drucken, worin sich bereits seine haarspaltende logische Sauberkeit in ihrer Verbindung mit einer gewissen peinlichen Schulmeisterei bemerkbar machte. Da er im J. 1805 einen an ihn ergangenen Ruf nach Heidelberg ablehnte, wurde er zum außerordentlichen Professor befördert, bei welcher Gelegenheit er als Inauguralschrift „De Platonici systematis fundamento“ veröffentlichte; eine Anfrage des bairischen Ministers Montgelas, ob er eine Professur in Landshut übernehmen wolle, beantwortete er (1806) verneinend. Die Frequenz seiner Vorlesungen, welche anfangs ziemlich bedeutend gewesen war, nahm jetzt allmälig etwas ab, da er sich in den bestehenden Studienplan und die damit zusammenhängende Tradition der Studirenden nicht völlig fügen wollte: doch sammelte er noch immer einen Kreis junger Männer (namentlich aus den russischen Ostseeprovinzen) um sich, deren Absicht weniger auf den gewöhnlich üblichen Gang der Studien, als auf freie geistige Ausbildung überhaupt gerichtet war; auch folgte er einer Lieblingsneigung, indem er (1808) für seine treueren Zuhörer eine „pädagogische Unterhaltungsstunde“ einrichtete. Aber andererseits beschäftigte er sich mit einer mehrseitigen Ausarbeitung seiner philosophischen Grundsätze, und in einem Zeitraume dreier Jahre veröffentlichte er entscheidende Schriften, deren wesentliche Züge er auch in späterer Zeit nicht mehr änderte. Es war nämlich vorerst die „Allgemeine Pädagogik aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet“ (1806), worin er die Aufgabe des erziehenden Unterrichtes auf psychologischer Grundlage entwickelte; dann folgte „Ueber philosophisches Studium“ (1807), woselbst er auf möglichst scharfe Scheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie drang und letztere bereits als Gegenstand einer allgemeinen Aesthetik faßte, dabei auch zahlreiche ironisch gewendete Winke gegen jene Richtungen einstreute, welche ihm als Abwege einer allzu kühnen Speculation erschienen; im Zusammenhange damit stand „Entwurf zu Vorlesungen über die Einleitung in die Philosophie“ 1807); hierauf aber erschienen in rascher Abfolge „Hauptpunkte der Metaphysik“ (1808); dann „Hauptpunkte der Logik“ (1808) und „Allgemeine praktische Philosophie“ (1808). So war um ein Jahrzehnt früher, als Hegel seinen zeitweiligen Triumphlauf begann, die Philosophie Herbart’s in ihren Grundzügen fertig vor das Publikum getreten, fand aber damals allerdings noch keinen Anklang.

Als im J. 1809 der Lehrstuhl Kant’s dadurch in Erledigung kam, daß W. Tr. Krug, welcher ihn seit 1804 eingenommen hatte, einem Rufe nach Leipzig folgte, war es Wilhelm von Humboldt, welcher den Blick der preußischen Regierung auf H. lenkte. Letzterer nahm nicht ungern die Berufung an und traf zu Ostern 1809 in Königsberg ein, wo er sofort freiere Hand hatte, seine Vorlesungen nach seinen eigenen Wünschen und Ansichten einzurichten, und auch für seine praktischen Neigungen ein freundliches Entgegenkommen fand, indem ein neu gegründetes pädagogisches Seminar seiner Leitung unterstellt wurde. Nachdem er (Januar 1811) sich mit einer in Königsberg erzogenen Engländerin [20] (der Kaufmannstochter Marie Drake) vermählt hatte, nahm er Zöglinge in Pension, und in Bälde (1812) wurde ihm gestattet, das genannte Seminar mit dieser Erziehungsanstalt in Verbindung zu setzen. Auch wurde er Mitglied der sog. wissenschaftlichen Deputation für das Unterrichtswesen , d. h. der Prüfungscommission, sowie auch der städtischen Schuldeputation; in ersterer verblieb er bis 1819, aus letzterer trat er 1826 in Folge eines Conflictes mit dem Consistorium aus. Während er so in mannigfaltiger Weise in Anspruch genommen war, reifte zugleich seine litterarische Thätigkeit zu ihrem Höhepunkte heran. Abgesehen von zwei Vorlesungen, welche er in der „Deutschen Gesellschaft“ hielt („Ueber Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung“, 1810 und „Ueber die Philosophie des Cicero“, 1811), und von einem Programme, welches er behufs des Eintrittes in die Facultät zu schreiben hatte („Theoriae de attractione elementorum principia metaphysica“, 1812) veröffentlichte er als Einzelnergebnisse seiner Studien zunächst „Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre“ (1811) und „Psychologische Untersuchung über die Stärke einer gegebenen Vorstellung“ (1812) und stellte zu gleicher Zeit das Manuscript eines größeren Werkes über Psychologie fertig, jedoch ohne es in den Druck zu geben. Hingegen erschien als Ergebniß und zugleich als Leitfaden seiner wiederholten Vorlesungen „Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie“ (1813), worin er seine selbständigen Ansichten über philosophische Methode und über die Grundzüge der theoretischen und der praktischen Philosophie in einer solchen Weise darstellte, daß unter seinen Schriften diese die gelesenste wurde und später zahlreichen Anhängern als erster Wegweiser diente; von der 2. Auflage an (1821) und noch mehr seit der 3. Auflage (1834) darf die Entstehung und allmälige Verbreitung seiner Schule datirt werden (1837 erschien eine 4. Auflage). Der große und tiefeingreifende Gegensatz, welcher ihn von Fichte, Schelling und Hegel schied (– von letzterem war bis dahin außer der Phänomenologie nur der 1. Band der Logik erschienen –) veranlaßte ihn zu der in lebhaftem und theilweise scharfen Tone verfaßten Schrift „Ueber meinen Streit mit der Modephilosophie“ (1814). Nachdem er hierauf jenes schon früher vollendete Manuscript als „Lehrbuch der Psychologie“ (1816) veröffentlicht hatte, beschäftigte ihn außer einigen kleineren Gelegenheits-Schriften oder Reden (z. B. „Gespräche über das Böse“, 1817) einläßlichst die nähere Verfolgung eines in der Wissenschaft völlig neuen Gedankens, und als Vorläufer dessen, was zu erwarten war, schickte er zunächst voraus „Ueber die Möglichkeit und Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden“ (1822). Bald hernach folgte das umfassende Hauptwerk „Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik“ (2 Bde., 1824 ff.). Auch die übrigen Theile seines Systemes unterwarf er nun einer Neubearbeitung, und so erschien „Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen einer philosophischen Naturlehre“ (2 Bde., 1828 ff.). Mit diesen letzteren beiden Werken glaubte er nach eigenem Ausspruche der wissenschaftlichen Aufgabe seines Lebens in abschließender Weise Genüge gethan zu haben, ließ jedoch hiemit seine Feder noch nicht völlig ruhen. Nach einiger Zeit veröffentlichte er „Kurze Encyklopädie der Philosophie, aus praktischen Gesichtspunkten“ (1831, 2. Aufl. 1841), worin er hauptsächlich die religiösen Anschauungen und Ueberzeugungen, sowie deren Verhältniß zur Ethik besprach. Wenn H. nach dem Tode Hegel’s (November 1831) sich der Hoffnung hingab, an die Stelle desselben nach Berlin berufen zu werden, so war er allerdings in einer Täuschung über die daselbst obwaltenden Verhältnisse befangen; doch es wurde ihm ein Ersatz jener unerfüllten Erwartung zu Theil, als in Göttingen der Skeptiker G. E. Schulze starb. Unmittelbar nach dem Tode desselben (Januar 1833) richtete von dort aus der Philologe Dissen eine erste Anfrage an H., ob er [21] einem Rufe zu folgen gedenke, und nach längeren Verhandlungen siedelte letzterer im October 1833 nach Göttingen um. Bei den hannöverschen Verfassungskämpfen (November 1837), in Folge deren bekanntlich die Universität das Unglück traf, sieben hervorragendste Professoren scheiden sehen zu müssen, glaubte H. vermittelnd wirken zu sollen und zog sich hierdurch manchen erklärlichen Tadel zu, sowie ihn auch die Studirenden auf einige Zeit bei Seite setzten. An Schriften veröffentlichte er in dieser seiner zweiten Göttinger Periode: „Umriß pädagogischer Vorlesungen“ (1835, 2. Aufl. 1841); „Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens. Briefe an Prof. Griepenkerl“ (1836); „Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral“ (1836) und „Psychologische Untersuchungen“ (2 Hefte, 1839 und 1840); die beabsichtigte Fortsetzung der letzteren unterblieb, da er plötzlich in Folge eines Schlagflusses (14. August 1841) verschied.

Die Stellung, welche Herbart’s Leistungen in der Entwicklung der neuesten deutschen Philosophie einnehmen, ist durch die eigenthümliche Selbständigkeit desselben bedingt. Wenn man ihn zu den Halbkantianern zählt, so ist einerseits sofort beizufügen, daß er unbestritten der bedeutendste unter denselben war, und andererseits bedarf eine solche Bezeichnung noch gar sehr einer näheren Darlegung. Während nämlich ein verschiedenartiger Halbkantianismus sich, soweit es möglich war, in einer Annäherung an Jacobi und in Hervorhebung des innern Gefühlslebens bewegte, war für H. die Abneigung das entscheidende, welche er gegen die im Principe tiefbegründete und folgerichtige Fortbildung des kantischen Standpunkts gefaßt hatte, d. h. er verhielt sich spröd gegen die ganze Fichte-Schelling-Hegel’sche Entwicklung und hiemit gerade gegen jene Grundsätze Kants, durch welche dieser der geistige Vater der nach ihm folgenden Philosophie gewesen war, hingegen knüpfte er behufs weiterer Durchführung an dasjenige an, was Kant aus der ihm vorhergehenden Stufe beibehalten hatte, so daß er ein Leibniz-Wolff’scher Kantianer genannt werden kann; im Hinblicke auf eine solche Modification des Kantischen Systemes, welche ihm als der einzig zeitgemäße Fortschritt der Philosophie erscheinen mochte, sagte H. einmal von sich selbst, er sei ein Kantianer vom Jahre 1828, – eine Aeußerung, welche eben bezeugt, daß er in seiner eigenartigen Consequenz zu einer gewissen Sicherheit gelangt war, in Folge deren er von allen anderweitigen Forderungen oder Bedenken unberührt zu bleiben vermeinte. Er verwarf Kant’s Kritik der Urtheilskraft, weil aus ihr Schelling’s Denkweise hervorgegangen, und er bekämpfte Kant’s intelligible Freiheit als Quelle des Fichtianismus, die Zustimmung aber zu Kant’s Grundsatz, daß die Welt Erscheinung ist, führte ihn dazu, einerseits das Ich als psychologisch wechselndes Produkt der Vorstellungen einer mathematischen Betrachtung zu unterwerfen und andererseits jenseits der Erscheinung ein Reales als wirkliches Sein festzuhalten, und zwar letzteres nicht etwa blos in praktischer Beziehung als ein im sittlichen Wollen ergriffenes, sondern auch in theoretischer Anschauung als schlechthin einfache an sich seiende Wesen, so daß hiebei wieder eine Metaphysik älteren Stiles zur Geltung kam.

H. ist der Ansicht, daß für die Philosophie eine Kritik des Erkenntnißvermögens nicht das erste sein dürfe, da dasselbe ja nur durch Erkennen geprüft werden könne, welch’ letzteres wieder einer Prüfung bedürfe u. s. f. ins Unendliche. Es bleibe sonach nur übrig, sich mit dem Erkennen sofort an die Gegenstände zu wenden, sodann aber die in denselben auftauchenden Widersprüche hinwegzuschaffen. In solchem Sinne sei die Philosophie überhaupt eine wissenschaftliche Bearbeitung und Berichtigung unserer allgemeinen Begriffe zum Behufe der Erkenntniß des faktisch Gegebenen. Sie zerfällt nach ihren Gegenständen in Logik, Metaphysik und Aesthetik. Nämlich während die Logik die Art und Weise der Verdeutlichung zu erwägen und darzulegen hat, [22] fallen der Metaphysik jene Begriffe anheim, welche, je deutlicher sie werden, desto mehr Zwiespalt hervorrufen und daher theils einer Veränderung theils einer Ergänzung bedürfen; die Aesthetik hingegen hat sich mit jenen Begriffen zu beschäftigen, welche zwar kein derartiges Verfahren erfordern, aber stets in der Vorstellung einen Zusatz mit sich führen, welcher in einem Urtheile des Beifalles oder des Mißfallens besteht.

In der Metaphysik sucht H. vorerst (durch eine „Methodologie“) die Widersprüche aufzuweisen, welche in den Gegenständen der Wahrnehmung sich aufdrängen, worunter namentlich die angebliche Unhaltbarkeit des Begriffes der Veränderung eine große Rolle spielt. Ergibt sich so, daß das Gegebene überhaupt ein Schein ist, so lautet daneben ein feststehender Grundsatz „soviel Schein, soviel Hindeutung auf Sein“, und es folgt sonach (in der „Ontologie“) eine an Leibniz erinnernde Darstellung des Seins, welches aus einer Vielheit einfacher Substanzen besteht, deren jede mittelst einer wirklichen Causalität in einer Mehrheit von Merkmalen sich darstellt, so daß hiedurch ein Zusammentreffen mehrerer Substanzen in bestimmten Merkmalen ermöglicht ist. In letzterem liegt die von H. häufig angewandte sog. „Methode der zufälligen Ansichten“ begründet (z. B. daß eine gerade Linie bald Hypotenuse bald Tangente bald Secante ist, oder daß ein musikalischer Ton in einer Beziehung Terz und in anderer Beziehung Quint ist u. s. f.). Da aber das Zusammensein und Nichtzusammensein der Substanzen für die Wahrnehmung einem steten Wechsel unterworfen ist, so ergeben sich (in der „Synechologie“) die Begriffe einer veränderlichen Lage und einer veränderlichen Reihe, d. h. Raum und Zeit, in welchen H. einen „objektiven“ Schein erblickt, zugleich aber in einer allerdings sehr bestreitbaren Weise den Uebergang zur Psychologie (d. h. „Eidolologie“) zu finden glaubt. Indem ihm das Ich als der Mittelpunkt der wechselnden Vorstellungen gilt und er dieselben als „Kräfte“ wissenschaftlich behandeln will, erwächst ihm seine mathematische Psychologie, welche förmlich als Statik und Dynamik der Seele auftritt, indem die mannigfaltigen Hemmungen der Vorstellungen und die Hemmungssummen sowie die Verschmelzungshülfen u. dgl. nach Gesetzen der Mathematik entwickelt werden und desgleichen auch die psychischen Vorgänge des Gefühles, des Begehrens, des Affectes u. dgl. ihre entsprechende Erklärung finden. Wenn H. hiedurch für die neuere Psychologie zweifellos eine weitgreifende und folgenreiche Anregung gegeben hat, welche in einer naturwissenschaftlichen Behandlung der betreffenden Probleme ihre erfreulichen Früchte trug, so verbleiben doch andererseits in philosophischer Hinsicht manche schwere Bedenken, welche in ihrer Unlösbarkeit überall da zu Tage treten dürften, wo H. dennoch von einem eigenen Seelenwesen spricht und den verschmähten Begriff einer Ichheit wieder in dasjenige verlegt, was ihm doch nur als Brennpunkt eines Hohlspiegels galt. Einen der Psychologie analogen Standpunkt legte er auch für die Naturphilosophie zu Grunde, insoferne es sich in der gesammten Natur um eine Reihe von Selbsterhaltungen und Störungen handle, welche gegenseitig im Gleichgewichte erhalten werden. Auf eine philosophische Fassung eines letzten göttlichen Principes verzichtete er, erblickte aber eine Berechtigung des religiösen Glaubens in teleologischen Erwägungen, welche jeder Einzelne nach seinem individuellen Gemüthe sich zurecht legt.

Neben den Theilen der theoretischen Philosophie läuft das Gebiet des Praktischen, d. h. die allgemeine Aesthetik parallel und unverbunden neben her, so daß wir vergeblich nach einem gemeinsamen Bande suchen. Wenn H. selbst einmal seine Philosophie mit einem System von Springbrunnen vergleicht, welche aus getrennten Quellen aufsteigend sich in Eine Krone vereinigen, so hat er seinerseits es wenigstens versäumt, jene einheitliche Krönung kenntlich zu machen, ja er [23] hat es dem Leser überlassen, über der Aesthetik die Metaphysik zu vergessen und umgekehrt über letzterer die erstere. Der Umkreis der Begriffe, an welche sich ein Beisatz des Gefallens oder des Mißfallens knüpft, wird eingetheilt in diejenigen, bezüglich deren es dem Belieben des Einzelnen anheim gegeben ist, sich mit denselben zu beschäftigen oder nicht (– die Kunst –), und in jene, welche mit Nothwendigkeit ein Gegenstand der Thätigkeit aller Menschen sind (– Ethik und Recht –). In ersterer Richtung ist es das Schöne, welches H. grundsätzlich in die Form der Verhältnisse verlegt, so daß ihm die musikalische Harmonie als das deutlichste Vorbild einer allgemeinen Kunstlehre überhaupt erscheint (die Anhänger dieser Herbart’schen Auffassung der Kunst werden sonach „Formalisten“ genannt). Betreffs aber des zweiten Gebietes stellt er fünf Musterbegriffe auf, welche weder unter sich noch aus einem gemeinschaftlich höheren abgeleitet werden sollen, nämlich die Idee der inneren Einstimmung, der Vollkommenheit, des Wohl- und Uebel-Wollens, Mißfallen am Streit, Idee der Vergeltung, auf welch letztere beide das Civilrecht und das Strafrecht begründet werden; insoferne sodann diese fünf Ideen in der menschlichen Gesellschaft bethätigt werden, ergibt sich die Gestaltung des Staates, in welchem – abgesehen von allem Streite über die Verfassungsform – es sich nur darum handelt, daß die sämmtlichen Verhältnisse richtig berechnet werden, um bei eingetretenen Störungen eine Wiederherstellung und im Uebrigen eine Erhaltung und Verbesserung des Bestehenden zu erreichen. Was endlich die Pädagogik Herbart’s betrifft, so bewegt sich diese in einer engeren Anknüpfung an seine Grundsätze der Psychologie, indem durch die Thätigkeit der erziehenden Mächte in der Seele des Zöglings eine passende Anlage erst mittelst einer zuverlässigen Planmäßigkeit erzeugt werden soll, worauf dann der Zweck verfolgt werden kann, eine gleichschwebende Vielseitigkeit des Interesses und hiemit eine harmonische Ausbildung aller Kräfte zu erreichen.

Ueber Herbart’s Leben: Hartenstein in der Ausgabe der Kleineren philos. Schriften Herbart’s (1842). Voigdt, Zur Erinnerung an J. F. Herbart (1841). Fr. Bartholomäi, Joh. Fr. Herbart (1875.); letzteres vielfach wörtlich wiederholt bei G. A. Hennig, J. Herbart (1877). Eine Gesammtausgabe seiner Werke besorgte Hartenstein; hiezu Herbart’sche Reliquien, herausg. von Ziller (1871). Ungedruckte Briefe von und an Herbart, herausg. von Zimmermann (1877). Ueber seine Philosophie außer den bekannten Werken Erdmann’s und Zeller’s Näheres bei Langenbeck, Die theoretische Philosophie Herbart’s u. s. Schule (1867). Drobisch, Ueber d. Fortbildung d. Phil. durch H. (1876). Rob. Zimmermann, Perioden in Herbart’s philos. Geistesgang (1876 Sitz.-Berichte der Wiener Akademie). Capesius, Die Metaphysik Herbart’s in ihrer Entwickelungsgeschichte (1878). Lotze [2], Gesch. d. Aesthetik, S. 225 ff. Moller in K. A. Schmid’s Encyklopädie d. Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 3, S. 397 ff.